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Griechenland: Absturz ganz unten

2010 hätten sie noch Nahrungsmittel nach Uganda geschickt, sagt der Chef einer Hilfsorganisation in Athen. "Jetzt brauchen wir die Hilfsgüter dringend hier." Hier – in Griechenland.

Hierher kommt niemand freiwillig. Polizisten ziehen schusssichere Wesen an, wenn sie in dieser Gegend auf Streife gehen. Die einzigen Geschäfte, die hier noch laufen, sind Drogenhandel und Prostitution. Fast jedes zweite Geschäft ist geschlossen. Graffiti überziehen die heruntergelassenen Blechrollläden. Überall liegt Müll. Die meisten Hotels haben aufgegeben. Die wenigen Menschen, die überhaupt unterwegs sind, sind Asiaten oder Afrikaner, Flüchtlinge, die sich von Europa etwas erhofft hatten – und in einem Land in Agonie gelandet sind.

Der Absturz Griechenlands: Am Athener Omoniaplatz zeigt er sich wie unter einem Vergrößerungsglas. Hier schlug noch vor einem Jahrzehnt das Herz der Millionenstadt, hier war was los, hier war Leben und Amüsement. Aber das ist lange her.

Ein junger bärtiger Mann kommt die Piräus-Straße hinunter. Scheu sieht er sich um, bevor er am Haus Nummer 35 auf die Klingel drückt. Niemand soll sehen, wie er durch die blaue Holztür geht. Denn in dem zweistöckigen Gebäude befindet sich Athens größte Armenküche. Heute gibt es Fassolada, eine Bohnensuppe, dazu ein Stück Weißbrot und einen kleinen Plastikbecher Ryzogalo zum Nachtisch, Milchreis.

Mehrere Tausend Menschen werden hier jeden Tag verköstigt. Menschen, die nicht einmal mehr genug Geld für eine Mahlzeit haben. Menschen wie der junge Mann, „Giannis“ nennt er sich, er ist 29 Jahre alt. Manche sagen, das sei das beste Alter. Zögernd, den Blick auf den Boden gerichtet, erzählt Giannis seine Geschichte: Vor 18 Monaten hat er seinen Job als Kellner in einem Hotel verloren. Ein halbes Jahr lang bekam er Arbeitslosengeld. Als damit Schluss war, musste Giannis seine Wohnung aufgeben. Er kam bei einer befreundeten Familie unter. Aber das gehe natürlich nicht ewig. „Sie wissen nicht, dass ich arbeitslos bin“, sagt der junge Mann. Anfangs hat er nach einem Job gesucht. Aber das ist fast aussichtslos.

Die Krise in Griechenland hier in Bildern:

„Mehr noch als die erfolglose Suche zermürben einen die Hoffnungslosigkeit und die Scham“, sagt Giannis. Jeden Morgen verlässt er das Haus, angeblich um zur Arbeit zu gehen, läuft ziellos durch die Straßen, wartet darauf, dass es zwölf wird. Dann öffnet die Suppenküche. Die bescheidenen Ersparnisse, von denen Giannis anfangs lebte, sind aufgebraucht. „Ich weiß nicht, was aus mir werden soll“, sagt er.

In Griechenland gehen jeden Monat rund 20 000 Arbeitsplätze verloren. Monat für Monat stieg die Arbeitslosenquote zuletzt um knapp einen Prozentpunkt an, im September lag sie bei 17,5 Prozent, im Oktober bei 18,2 Prozent, und nirgends ein Anzeichen dafür, dass sich das ändern sollte. Das Land muss sparen, das verlangen die internationalen Geldgeber – und diese Forderung wird immer wieder erneuert. 73 Milliarden Euro Hilfskredite haben die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) in den vergangenen 18 Monaten nach Griechenland überwiesen. Aber bei Menschen wie Giannis oder den Suppenküchen ist kein einziger Cent davon angekommen. Im Gegenteil: Unter dem Spardiktat muss die griechische Regierung ihr ohnehin nur lose geknüpftes soziales Netz immer weiter ausdünnen. Und so sind die Leidtragenden der Krise diejenigen ohne Lobby, die kleinen Leute – mit dramatischen Konsequenzen für den Einzelnen.

Die Griechen fallen ins Bodenlose

Die Arbeitslosigkeit wächst – und damit die Zahl derer, die ins Bodenlose fallen. In Griechenland gibt es nur ein Jahr lang Arbeitslosengeld, danach ist keine Unterstützung mehr vorgesehen. Dann müssen – wie bei Giannis – Familien und Freunde ran, aber was, wenn immer weniger überhaupt noch Einkommen haben. Laut Statistik lebt bereits jeder fünfte Grieche unterhalb der Armutsschwelle.

Aus diesem Gedanken heraus wurde bereits eine Lebensmittel-Kampagne für Bedürftige ausgerufen. „Zusammen können wir es schaffen“, lautet das Motto. Beim Einkauf im Supermarkt werden die Menschen aufgefordert, „auch an die mittellosen Mitbürger zu denken und auch für sie etwas einzukaufen“. Kirchen, Städte, Gemeinden und die meisten Supermärkte beteiligen sich.

Mindestens 13.000 Menschen kommen auch Tag für Tag in Athen zu den Armenspeisungen, sagt Nikitas Kanakis. Der Zahnarzt ist Vorsitzender der griechischen Sektion der Hilfsorganisation Ärzte der Welt (MDM). Sie betreibt in Griechenland vier Zentren, in denen Bedürftige kostenlos medizinisch versorgt werden, eine wichtige Hilfe, besonders seit die Apotheken am Mittwoch ankündigten, Barzahlung zu verlangen. „Aber immer mehr Menschen fragen uns nicht nach Medikamenten, sondern nach Lebensmitteln. Sie haben Hunger“, berichtet Kanakis. „Was wir erleben, ist schockierend und beschämend.“ Seit Gründung der Hilfsorganisation vor 22 Jahren haben die 600 griechischen Mitglieder in 50 Ländern geholfen. Jetzt konzentrieren sie sich ganz auf die „humanitäre Krise in Griechenland“, wie Kanakis sagt. 2010 hätten sie noch „sechs Container mit Nahrungsmitteln nach Uganda geschickt – jetzt brauchen wir die Hilfsgüter dringend hier.“ Hier: im eigenen Land.

Hinter der Suppenküche liegt der Kerameikos. Hier begruben einst die Athener der Antike ihre Toten. Sie errichteten ihnen prächtige Denkmäler, legten ihnen reiche Gaben mit ins Grab, in der Hoffnung auf ein besseres Los im Jenseits. Heute sorgen sich die Bewohner des heruntergekommenen Viertels um ihr Schicksal im Diesseits. Das einstöckige Haus an der Konstantinopel-Straße hat keine Fenster zur Straße, sondern eine hohe Mauer. So bauten die Athener schon in der Antike ihre Atriumhäuser. Hinter der schmalen Tür öffnet sich ein Innenhof. In seiner Mitte breitet ein Zitronenbaum wie ein Dach seine Äste aus. Darunter sitzen Männer an kleinen Tischen. Sie trinken Kaffee oder Wasser. Man hört das Klicken von Würfeln. Einige spielen Tavli, andere Schach. Viel gesprochen wird nicht.

Das sieht idyllisch aus, ist aber ein Treffpunkt der Verzweifelte, eine letzte Anlaufstelle für Leute wie Giorgos Barkouris, einen Mann von 60 Jahren. Mitte 2010 hat er seinen Job als Computertechniker bei einer Versicherung verloren – „wegen der Krise“, wie ihm der Chef achselzuckend erklärte. „Ein Jahr später, als die Arbeitslosenhilfe auslief, wurde mir klar, dass ich meine Miete nicht mehr bezahlen konnte und meine Krankenversicherung verlieren würde“, sagt Bakouris. Er hat sich auf das Dasein als Obdachloser vorzubereiten versucht und vor dem Auszug bereits „zur Probe“ im Freien geschlafen. „Die anfangs schlaflosen Nächte auf Parkbänken oder in Hauseingängen waren erschöpfend“, erzählt er, „aber das Schlimmste waren die Depressionen, das Gefühl völliger Leere und Sinnlosigkeit.“

Hilfe fand Barkouris in dem Obdachlosenasyl der Hilfsorganisation Klimaka. Klimaka bedeutet Strickleiter. Die Organisation will abgestürzte Menschen zurück in die Gesellschaft holen. Klimaka ist die Leiter – klettern müssen die Menschen allerdings selbst. Bakouris fand hier nicht nur ein Bett, sondern auch eine Aufgabe: „Ich bin von morgens bis abends beschäftigt“, sagt er und ist begeistert. Er erledigt Botengänge, organisiert Spenden, kümmert sich um die Computer und die Webseite und das Internetradio von Klimaka. „Die Depressionen sind weg, ohne Medikamente“, sagt er.

Armut und Obdachlosigkeit waren früher kein Thema. Jetzt schon

„Giorgos hat es geschafft, weil er sich nicht aufgegeben hat“, sagt Ada Alamanou, die als ehrenamtliche Helferin bei Klimaka die Obdachlosenhilfe koordiniert. Von der Arbeitslosigkeit ist es nur ein kleiner Schritt zur Obdachlosigkeit, denn eine Grundsicherung wie Hartz IV oder Sozialhilfe gibt es in Griechenland nicht. So ist die Zahl der Obdachlosen in Griechenland in den vergangenen zwei Jahren um 25 Prozent auf geschätzte 20 000 gestiegen. Die Hälfte von ihnen lebt in Athen. In den zehn Obdachlosenunterkünften der Stadt gibt es aber nur rund 500 Schlafplätze.

„Auf uns kommt eine Lawine zu“, fürchtet Ada Alamanou. Viele der rund 250 000 Menschen, die 2011 ihre Arbeit verloren haben, würden im laufenden Jahr in die Obdachlosigkeit stürzen, wenn die einjährige Arbeitslosenhilfe auslaufe, fürchtet sie. Inzwischen gebe es auch fast in jeder Familie mindestens einen Arbeitslosen, so dass da immer weniger sei, das man teilen könne. Sie fordert dringend mehr Obdachlosenunterkünfte und Suppenküchen – und kennt dabei die Antwort auf diese Forderungen längst: „Die Kommunen und die Ministerien sagen uns: Wir haben kein Geld.“

Früher begegnete man in Griechenland selten Armut und Obdachlosigkeit. Die Familie half einander. Doch das wird für viele schwierig. „Viele jüngere Arbeitslose leben von der Rente ihres Vaters oder ihrer Mutter“, sagt Alamanou. „Wenn die Eltern sterben, stürzen sie unweigerlich ab in die totale Armut.“

Giorgos Bakouris hat noch Hoffnung. In zwei Jahren kann er eine Frührente beantragen. Nach heutigen Maßstäben wären das rund 400 Euro. „Davon könnte ich leben, mir sogar wieder ein eigenes Dach über dem Kopf leisten“, sagt er. Aber in seine Hoffnung mischt sich Ungewissheit. Denn wie weit die Renten bis dahin wegen des Sparkurses noch gekürzt werden, könne man natürlich heute noch nicht wissen, schränkt er ein – „falls der Staat bis dahin nicht sowieso pleite ist“.

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