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Zu Gast bei Willy Brandt: Die Unionsspitze - links CDU-Chefin Angela Merkel, rechts im Fahrstuhl CSU-Chef Horst Seehofer und CDU-Vize Armin Laschet - vberhandelt in der SPD-Parteizentrale über eine nächste große Koalition.

© AFP/Tobias Schwarz

Groko-Verhandlungen: Das sind die wichtigsten Vorhaben - bis jetzt

Union und SPD haben sich am Wochenende auf zahlreiche Eckpunkte für eine Koalitionsvereinbarung verständigt. Der Überblick zeigt jedoch: wichtige Themen fehlen noch.

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Der ICE 1729 von Binz nach München hat am Sonntag leichte Verspätung, aber das nützt Horst Seehofer auch nichts. Als der Zug um kurz nach 16 Uhr Berlin-Hauptbahnhof verlässt, sitzt der CSU-Chef immer noch mit Angela Merkel und Martin Schulz im Willy-Brandt-Haus statt, wie er seit Tagen schalkhaft angedroht hatte, auf dem Weg nach Haus. Der größere Kreis der Koalitionsunterhändler war in dem Moment gerade erst dabei, einen Kompromissvorschlag zum Streitthema „Mieten und Wohnen“ abzuklopfen.

Die SPD wollte sich eben nicht hetzen lassen. Es habe keinen Sinn, Tempo zu machen „und nach einer Woche sagen wieder alle: ,Was haben die da für einen Quatsch verhandelt?‘“, bremste SPD-Vize Manuela Schwesig schon am Morgen. Für die Sozialdemokraten ist der Prozess fast so wichtig wie das Ergebnis. Fraktionschefin Andrea Nahles hatte ihrem Parteitag schließlich versprochen, man werde verhandeln, „bis es quietscht“. Ein gemütlicher Durchbruch zur Sonntagskaffeestunde wäre allein schon dramaturgisch falsch.

Am frühen Abend stand fest: Vor Montag wird das nichts. Dann erst sollen die zwei letzten inhaltlichen Brocken verhandelt werden, die Gesundheitspolitik und die Befristungsregeln im Arbeitsrecht. Und ganz zuletzt müssen die Chefs die Ministerien unter den Parteien aufteilen.

Im Willy-Brandt-Hause wurde also die nächste Runde Verpflegung geordert; morgens um 10 Uhr geht es weiter. Die SPD-Zentrale soll Ort des Finales bleiben; eine symbolische Verbeugung vor den SPD-Mitgliedern, die in den nächsten drei Wochen über einen Koalitionsvertrag abstimmen. Dessen Umrisse sind mittlerweile schon recht gut erkennbar.

STEUERN UND FINANZEN

Seit 2014 macht der Bund Haushaltsüberschüsse, sammelt Rücklagen an und profitiert noch einige Jahre von niedrigen Zinsen. So haben sich Union und SPD zum Geldausgeben entschieden, oder wie es im Ergebnispapier zu Finanzen und Steuern heißt: Sie wollen die Spielräume „verantwortlich und sozial ausgewogen für politische Gestaltung nutzen“. Ohne neue Schulden allerdings, das Ziel des ausgeglichenen Haushalts bleibt. Der Spielraum wird auf 45,95 Milliarden Euro beziffert.

Die großen Ausgabenprogramme richten sich auf Bildung und Digitalisierung (knapp sechs Milliarden Euro), Familienförderung und Soziales (zwölf Milliarden), Bauen und Wohnen (vier Milliarden), die Kommunalförderung und den ländlichen Raum (zwölf Milliarden) sowie die Bundeswehr und die internationale Sicherheit (zwei Milliarden). Unter dem Punkt „Entlastung der Bürger“ steht die einzige echte Steuersenkung: Der Solidaritätszuschlag soll für etwa 90 Prozent aller Zahler (also die gesellschaftliche Mitte) abgeschafft werden, allerdings erst 2021. Das bedeutet einen Einnahmeverzicht von zehn Milliarden Euro. Entlastet werden alle mit einem zu versteuernden Einkommen bis 61.000 Euro (oder 122.000 Euro bei Ehepaaren). Geringverdiener werden über die Sozialbeiträge entlastet. Sollten sich über die Wahlperiode zusätzliche Spielräume ergeben, wird das Geld vorrangig für Digitalisierung, Entwicklungspolitik und die Bundeswehr ausgegeben.

WOHNEN

Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, Investitionsanreize für die Bauwirtschaft, Förderung von Familien, die ein Eigenheim erwerben – so soll in den kommenden vier Jahren Wohnungsnot und steigenden Mieten in Großstädten begegnet werden. Für den Bau von Sozialwohnungen sind zwei Milliarden Euro bis 2021 im Gespräch. Weitere zwei Milliarden sollten in Investitionsanreize und Fördermaßnahmen fließen.

Für die Modernisierung von Wohnungen sei vorgesehen, dass Vermieter nicht mehr als drei Euro pro Quadratmeter auf die Miete aufschlagen dürfen, hieß es in Verhandlungskreisen. SPD-Unterhändlerin Natascha Kohnen sagte, die Mietpreisbremse werde verschärft. Vermieter müssen neuen Mietern dazu die Vormiete nennen.

Für Familien mit Kindern soll ein Baukindergeld eingeführt werden, das an eine Einkommensgrenze geknüpft wird – laut CDU-Unterhändler Bernd Althusmann 1200 Euro pro Kind und Jahr. Der Wohnungsbau soll durch Investitionsanreize befördert werden, außerdem soll ungenutztes Bauland über eine Reform der Grundsteuer stärker besteuert werden, um es schneller nutzbar zu machen. Kommunen sollen Grundstücke des Bundes leichter und günstiger kaufen können als bisher, um Sozialwohnungen zu bauen.

STRUKTURSCHWACHE REGIONEN

Laut Nordrhein-Westfalens SPD-Chef Michael Groschek werden Förderungen für strukturschwache Regionen und ländliche Räume künftig an deren tatsächlichen Schwächen orientiert und „nicht mehr nach Himmelsrichtung“ vergeben. Bereits im Sondierungspapier angekündigt war dazu die Einrichtung einer Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, die Vorschläge für den Kampf gegen Strukturschwächen etwa im ländlichen Raum oder an Standorten wegfallender Industrien machen soll. Diese Kommission solle sich auch mit dem „Überschuldungsproblem notleidender Städte“ beschäftigen, sagte Groschek. Dafür blieben zwar grundsätzlich die Länder verantwortlich, „aber der Bund wird sich über diese Kommission in die Problemlösung einschalten.“

Grundsätzlich Laut gelte künftig zwischen Bund und Kommunen der Grundsatz "Wer bestellt, bezahlt", sagte Groschek mit Blick auf Entscheidungen des Bundes, die finanzielle Folgen für die Bundesländer, Städte und Gemeinden hätten.

RENTE

Bei der gesetzlichen Rente wollen die Koalitionäre mehr Sicherheit geben – durch Haltelinien für Rentenniveau und Beitragssatz. Bis 2025 sollen die Beiträge nicht über 20 Prozent steigen. Gleichzeitig soll das Rentenniveau, mit dem das Verhältnis zum Durchschnittslohn beschrieben wird, nicht unter 48 Prozent sinken. Bisher war nur eine Grenze von 43 Prozent bis 2030 vorgegeben. Für die Problemphase nach 2025, in der die Babyboomer-Generation verrentet wird, soll eine Kommission Vorschläge erarbeiten. Für bedürftige Rentner, die mindestens 35 Jahre lang Beiträge gezahlt, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, beschließen Union und SPD eine Grundrente: Sie liegt um zehn Prozent über der örtlich unterschiedlichen Grundsicherung, ist aber mit einer Einkommensprüfung verknüpft. Dabei bleibt nur Wohneigentum unberücksichtigt. Erwerbsgeminderte werden in der Rente finanziell deutlich bessergestellt: so, als hätten sie regulär bis zum aktuellen Renteneintrittsalter gearbeitet. Dies gilt allerdings nicht rückwirkend. Mütter mit drei oder mehr Kindern, die vor 1992 geboren wurden, erhalten nun auch pro Kind ein drittes Erziehungsjahr angerechnet. Selbstständige werden verpflichtet, fürs Alter vorzusorgen und dürfen dafür in die gesetzliche Rentenversicherung.

PFLEGE

In der Pflege gibt es ein Sofortprogramm: 8000 neue Stellen für die medizinische Behandlungspflege in den Heimen und eine bessere Bezahlung von Kranken- und Altenpflegern. Um dies zu erreichen, sollen Tarifverträge leichter als allgemeinverbindlich erklärt werden können, also auch für die vielen Einrichtungen gelten, die nicht tarifgebunden sind. Der Pflegemindestlohn im Osten soll dem im Westen angeglichen werden, also von derzeit 10,05 auf 10,55 Euro pro Stunde steigen. Beides könnte die Kosten für Pflegebedürftige und auch für die Sozialhilfe erhöhen. Kinder von Pflegebedürftigen müssen künftig nämlich erst einspringen, wenn sie mehr als 100000 Euro im Jahr verdienen. Pflegende Angehörige erhalten einen Rechtsanspruch auf Rehabilitation.

GESUNDHEIT

In der Gesundheitspolitik ist der dickste Brocken die Rückkehr zur paritätischen Beitragsfinanzierung: Die Arbeitgeber müssen die gesetzliche Krankenversicherung von 2019 an wieder zur Hälfte bezahlen. Bisher hatten die gesetzlich Versicherten über Zusatzbeiträge deutlich mehr zu schultern, derzeit im Schnitt einen Prozentpunkt. Die Einigung kann ihnen je nach Verdienst und Krankenkasse eine Ersparnis von mehr als 300 Euro im Jahr bescheren. Außerdem soll es mehr Geld für Kliniken, niedrigere Beiträge für kleine Selbst ständige und bis 2021 eine digitale Patientenakte für alle geben. Wichtig ist auch eine Umstellung bei der Krankenhausfinanzierung: Das Pflegepersonal dort soll nicht mehr über Fallpauschalen, sondern getrennt davon bezahlt werden. Damit ende für diese Berufe der „Ökonomisierungszwang“, sagt der SPD-Experte Karl Lauterbach.

BILDUNG

Rund elf Milliarden Euro zusätzlich wollen Union und SPD in Bildung und Forschung investieren. Etwa 3,5 Milliarden sollen in die Digitalisierung der Schulen fließen, rund zwei Milliarden in den Ausbau der Ganztagsbetreuung. Grundschulkinder bekommen einen Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung. Beide Seiten einigten sich darauf, mit einer Grundgesetzänderung das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern zu lockern, um dem Bund Investitionen etwa in die schulische Infrastruktur zu ermöglichen. Bisher war dies nur in Ausnahmefällen möglich. Die SPD-Führung sieht in dem milliardenschweren Bildungspaket einen zentralen Verhandlungserfolg, mit dem sie bei ihrer skeptischen Basis um Zustimmung zu einer weiteren Groko werben kann.

FLÜCHTLINGSPOLITIK

Für die SPD war es ein schmerzhafter Kompromiss, auch wenn Parteichef Martin Schulz die Einigung mit der Union als großen Verhandlungserfolg verkaufen wollte: Die Familienzusammenführung für Menschen mit subsidiärem Schutz bleibt bis Ende Juli ausgesetzt. Spätestens ab 1. August soll für diese Flüchtlinge monatlich 1000 Eltern, Ehegatten oder minderjährigen Kindern der Nachzug ermöglicht werden. Allerdings erhält kein Angehöriger einen Anspruch darauf. Die generelle Härtefallklausel für alle Ausländer bleibt auch für Subsidiäre bestehen. In der Praxis betraf das 2017 aber maximal 100 Menschen. Großzügigere Verwaltungsvorschriften als derzeit lehnt die CSU ab. Insgesamt wollen Union und SPD die Zahl der Zuwanderer auf 180.000 bis 220.000 Menschen pro Jahr begrenzen.

ENERGIE UND KLIMA

Dass sie die einmal gesteckten Klimaziele für 2020 nicht erreichen werden, hatten Union und SPD schon während der Sondierungen mitgeteilt. Um sie zumindest bis 2030 umzusetzen, wollen sie nun verbindliche sektorale Kohlendioxid-Einsparungen für die Industrie, den Verkehr, die Landwirtschaft und für Gebäude vorgeben. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll ohne die bisherige Beschränkung vorangetrieben werden, damit sie im Strommix bis 2030 auf 65 Prozent kommen.

UMWELT-, TIER und VERBRAUCHERSCHUTZ

Die Landwirtschaftsexperten der Parteien haben den schrittweisen und schnellstmöglichen Ausstieg aus der Nutzung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat und ein Verbot des Kükenschredderns vereinbart, bei dem bisher jährlich Millionen männliche Küken von Legehühnern kurz nach dem Schlüpfen getötet werden, weil sie keine Eier legen und als Masttiere nicht geeignet sind. Das Anbauverbot gentechnisch veränderter Pflanzen soll bundeseinheitlich geregelt werden. Für Fleisch soll ein staatliches „Tierwohllabel“ eingeführt werden. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) ein "Insektenschutzprogramm" und einen Schwerpunkt zum Schutz der Artenvielfalt in Deutschland an. Außerdem wollen Union und SPD "nationale und internationale Maßnahmen" gegen die Vermüllung der Weltmeere ergreifen.

Die saarländische Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger (SPD) sagte, die drei Parteien hätten sich auch auf ein Ziel für den Ökolandbau geeinigt. Demnach sollen bis 2030 insgesamt 20 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen dafür genutzt werden. Rehlinger kündigte auch einen Vorstoß für gesündere Lebensmittel an: „Noch in diesem Jahr wird es ein Konzept mit Zielmarken und Zeitplan geben, um Zucker, Fett und Salz im Essen zu reduzieren“, sagte sie.

Drohende Diesel-Fahrverbote in Städten will die mögliche große Koalition verhindern und den schleppenden Ausbau der Elektromobilität beschleunigen. Hendricks räumte aber ein: „Wir wissen nicht, ob wir Fahrverbote werden vermeiden können.“ Eine vor allem von Umweltverbänden geforderte Einführung einer blauen Plakette sei in den Koalitionsverhandlungen kein Thema gewesen. NRW-Ministerpräsident und CDU-Vize Armin Laschet verwies auf das bereits beschlossene Milliarden-Programm für saubere Luft in Städten. Hendricks bekräftigte, man prüfe Nachrüstungen bei Diesel-Fahrzeugen direkt am Motor, falls diese sinnvoll und wirtschaftlich vertretbar seien. Die Autobranche lehnt solche Hardware-Nachrüstungen vor allem aus Kostengründen bisher ab.

KULTUR UND MEDIEN

Union und SPD wollen den gesellschaftlichen Zugang zur Kultur erleichtern. Die kulturelle Bildung soll gestärkt werden, kündigte SPD-Unterhändler Michael Roth am Sonntagabend bei der Vorstellung der Ergebnisse der entsprechenden Arbeitsgruppe bei den Koalitionsverhandlungen an. Bei Bundeskultureinrichtungen wolle man künftig vermehrt „auf kostenfreien Eintritt“ setzen. Eine neue schwarz-rote Bundesregierung will Kultur in ganz Deutschland "grenzüberschreitend" fördern - auch dies würde eine Lockerung des Kooperationsverbotes im Grundgesetz bedeuten. Auch die Geschlechtergerechtigkeit in der Kultur- und Kunstszene soll gefördert und etwa sollen Jurys ausgewogener besetzt werden: Frauen seien in der Szene bisher nicht angemessen berücksichtigt.

Mit einem neuen Programm „Jugend erinnert“ soll die Erinnerung an die NS-Diktatur und das SED-Regime bei Jugendlichen wachgehalten werden. Man habe starke Akzente auf die Erinnerungskultur gesetzt, auch weil andere Parteien die „Idee verbreiten, wir bräuchten einen Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur“, sagte CDU-Kulturpolitikerin Monika Grütters mit Blick auf die AfD.

Der deutsche Auslandssender "Deutsche Welle" soll stärker gefördert und auf ein Niveau mit seinen europäischen Wettbewerbern gebracht werden, sagte Grütters, ohne konkrete Zahlen zu nennen.

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