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Boris Johnson im Jahr 2017, als er noch britischer Außenminister war und im UN-Sicherheitsrat in New York saß.

© Richard Drew/AP/dpa

Update

Wer folgt auf Theresa May?: Großbritannien sucht den Brexit-Manager

Die britische Premierministerin wird zurücktreten, mögliche Nachfolger bringen sich in Stellung. Einer gilt als Favorit. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Die Ära Theresa May ist vorüber. Am Freitag zog die britische Premierministerin in London nach wochenlangen Spekulationen den Schlussstrich unter ihre knapp dreijährige Amtszeit. Die 62-Jährige will am 7. Juni zunächst als Vorsitzende ihrer konservativen Partei zurücktreten; bis Mitte Juli sollen dann deren Unterhaus-Abgeordnete sowie die Mitglieder über Mays Nachfolge in Partei- und Staatsamt entscheiden. Als Favorit gilt der frühere Außenminister Boris Johnson. Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn forderte sofortige Neuwahlen.

Warum kam die Erklärung gerade jetzt?

May stand seit Monaten unter dem Druck ihres rechten Partei-Flügels. Ein fraktionsinternes Misstrauensvotum hatte sie zwar im Dezember gerade noch überstanden, schon damals stimmte aber ein Drittel der konservativen Unterhaus-Abgeordneten gegen sie. Nach den katastrophalen Niederlagen für ihr EU-Austrittspaket zu Jahresbeginn handelte May erneut: Sie werde Staats- und Parteiamt „vor der nächsten Phase der Brexit-Verhandlungen“ niederlegen. Anfang Juni sollte sich das Unterhaus erneut mit dem Austrittsvertrag und der politischen Erklärung beschäftigen, angereichert durch die Möglichkeit, die Zustimmung an eine Zollunion mit der EU und sogar an ein zweites Referendum zu koppeln.

Dies ging selbst bisher kompromissbereiten Brexiteers wie der Parlamentsministerin Andrea Leadsom zu weit. Leadsoms Rücktritt, dazu der energische Widerstand von Außenminister Jeremy Hunt und Innenressortchef Sajid Javid brachten die Regierungschefin am Donnerstag auf den Boden der Realität: Ihre Zeit war um.

Nach einem Gespräch mit dem Leiter der Tory-Hinterbänkler Graham Brady, auch er ebenso wie die zuvor Genannte ein Nachfolge-Kandidat, trat May am Freitag ans hastig installierte Rednerpult vor ihrem Amtssitz in der Downing Street. Sie empfinde tiefes Bedauern darüber, dass der vom Volk beschlossene EU-Austritt bisher nicht vollzogen sei, sagte die Premierministerin und räumte damit ihr Scheitern an der wichtigsten Aufgabe ihrer Amtszeit ein. Nachfolgerin oder Nachfolger müssten bewerkstelligen, was ihr selbst verwehrt geblieben sei: einen Konsens im Unterhaus zu finden über das beste Brexit-Vorgehen.

Welche Folgen hat die Rücktrittserklärung?

Da May offiziell von der Queen ernannt wurde, ändert sich zunächst an ihrem Status gar nichts. Sie bleibt Premierministerin in einer Phase, in der die Konservative Partei eine schlechte Nachricht nach der anderen verkraften muss. Spät am Sonntagabend werden die Ergebnisse der Europawahl vom Donnerstag bekanntgegeben. Den Umfragen zufolge dürfte die Partei höchstens zehn Prozent (Unterhauswahl 2017: 42) und damit das schlechteste Ergebnis seit Einführung demokratischer Wahlen erzielt haben.

Am 6. Juni steht den Konservativen dann eine weitere schmerzhafte Wahlniederlage ins Haus. Zwar geht es bei der Nachwahl in Peterborough um ein Labour-Mandat; wenn aber die Torys hinter der Brexit-Party von Nigel Farage auf Platz Drei landen, wird dies die Stimmung nicht gerade heben.

Tags darauf legt May dann offiziell ihr Amt als Parteivorsitzende nieder. Das parteiinterne Verfahren sieht vor, dass die Unterhaus-Abgeordneten das große Bewerberfeld in mehreren Abstimmungen auf zwei Kandidaten reduzieren, die sich dann den rund 120.000 Parteimitgliedern zur Wahl stellen.

Wer bringt sich für Mays Nachfolge in Stellung?

Einen Hinweis auf die Priorität der Brexit-Ultras lieferte die Reaktion von Nigel Farage, dessen neugegründete Brexit-Party die Europawahl gewonnen haben dürfte. May habe die Stimmung im Land falsch eingeschätzt, behauptete der Befürworter des No Deal. Nach zwei pro-europäischen Chefs müssten die Torys nun einen Brexiteer wählen: „Sonst ist die Partei erledigt.“

Tatsächlich konzentrieren sich die Nachfolge-Überlegungen der konservativen Fraktionsmitglieder auf jene Kandidaten, die im Referendum 2016 für den EU-Austritt geworben hatten. Der als Außenminister wegen eines von May geplanten Brexit-Kompromisses zurückgetretene 54-jährige Johnson hat in den vergangenen Monaten viele Abgeordnete umworben. Unterstützer sammelte auch der Brexit-Minister Dominic Raab (45). Hingegen haben andere einstige Brexit-Vorkämpfer wie Umweltminister Michael Gove (51) und Verteidigungsministerin Penelope Mordaunt (46) bis zuletzt loyal zu May gehalten.

Respekt erworben hat sich auch Andrea Leadsom (56), deren Rücktritt am Mittwoch ihr bereits verloren gegangene Sympathien ihrer Brexit-Freunde eingebracht haben dürfte. Ähnlich äußerten sich Außenminister Jeremy Hunt ( 52) und Innenressortchef Sajid Javid ( 49), die sich erst neuerdings zum Brexit bekennen. Hingegen werden EU-Freunde wie Rudd (55) oder dem neuen Entwicklungshilfeminister Rory Stewart (46) keine Chancen eingeräumt.

Am Samstag gab Gesundheitsminister Matt Hancock (40) seine Kandidatur bekannt. „Wir brauchen einen Anführer für die Zukunft, nicht nur fürs Erste“, schrieb Hancock bei Twitter. Er kündigte an, beim Brexit „liefern“ zu wollen. Dann müsse das Land auch bei anderen Dingen „vorankommen“ und sich eine „strahlende Zukunft“ aufbauen. Auch die frühere Arbeitsministerin Esther McVey (51) hatte zuvor offiziell ihre Kandidatur verkündet. Außenminister Jeremy Hunt (52) kündigte an, auf einen „günstigen Moment“ zu warten.

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Wird Boris Johnson Premierminister?

Bei Buchmachern und in Umfragen kommt dem einstigen Londoner Bürgermeister und Außenminister eindeutig die Favoritenrolle zu. Für seine beiden Amtszeiten im Londoner Rathaus konnte Johnson auch Stimmen jenseits des konservativen Lagers gewinnen. Sein Appeal bei den EU-freundlichen Hauptstädtern hat allerdings durch seine Brexit-Haltung ebenso gelitten wie in Schottland. Hingegen genießt der Mann mit dem blonden Wuschelkopf in weiten Teilen Englands hohe Zustimmungswerte.

Nach der Scheidung von seiner Frau lebt der Vater von vier ehelichen Kindern und mindestens einem unehelichen Kind mit einer mehr als 20 Jahre jüngeren Frau zusammen, hat sich die Haare schneiden lassen, Gewicht verloren und praktiziert neuerdings Yoga. Politisch wichtiger dürfte sein Werben um die Fraktionskolleginnen und -kollegen sein, die ihm den Weg in die Urabstimmung der Parteimitglieder ebnen müssen.

Johnson propagiert eine Neuverhandlung des Austrittsvertrages mit dem Ziel, die Notfalllösung für Nordirland zu verändern. Dieser gilt vielen Brexiteers als Vorwand, das insgesamt ungeliebte Dokument abzulehnen. Anhänger des ebenso gescheiten wie bekanntermaßen chaotischen Politikers argumentieren, Johnson könne seinem eigenen Lager jene Kompromissbereitschaft abverlangen, die Theresa May verwehrt wurde. Kritiker warnen davor, Johnson werde zu hoch pokern und den No Deal verschulden, mit herben wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien und die EU.

Was bedeutet das für den Brexit?

Am Freitag standen die Nachrufe auf Theresa May im Vordergrund. Eine Sprecherin von Angela Merkel sprach von „Respekt“ vor einer Politikerin, mit der die Bundeskanzlerin gut zusammengearbeitet habe. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lobte May als „mutige Frau“.

Es gab auch warnende Stimmen. Eine spanische Regierungssprecherin bezeichnete den Rücktritt als schlechte Nachricht, weil dieser den Chaos-Brexit („no deal“) wahrscheinlicher mache. Tatsächlich dürfte ein Entgegenkommen Brüssels entscheidend von der Position Irlands abhängen. Premierminister Leo Varadkar hat stets eisern am backstop festgehalten; andererseits wäre aber der No Deal für die grüne Insel mindestens so verheerend wie für das Austrittsland selbst. (mit AFP)

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