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Die Befürworter des Brexit verlieren die Geduld. Sie demonstrieren vor der Downing Street, dem Regierungsitz von Theresa May.

© Henry Nicholls/REUTERS

Großbritannien: Das Schwarze-Peter-Spiel um den Brexit

Wer ist Schuld? Vor der entscheidenden Brexit-Woche versuchen London und Brüssel, sich gegenseitig die Verantwortung für ein mögliches Scheitern zuzuschieben.

Das Drama um den britischen EU-Austritt geht in die entscheidende Woche und das „Blame game“ hat begonnen – also jenes politische Spiel, bei dem es darum geht, der jeweils anderen Seite die die Schuld zuzuweisen. Dass Theresa May am Dienstag bei der Abstimmung über den Brexit-Vertrag im britischen Unterhaus erneut eine Niederlage erleidet, ist in den vergangenen Tagen wahrscheinlicher geworden. Sollte das geschehen, droht am Monatsende der Chaos-Brexit.

Die Gespräche zwischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier, dem britischen Brexit-Minister Stephen Barclay und Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox hatten am vergangenen Dienstag keine Annäherung gebracht. May hatte darauf gesetzt, dass bei den Last-Minute-Verhandlungen noch Veränderungen an der umstrittenen Nordirland-Regelung herausspringen, mit denen die Hardliner in den Reihen der konservativen Regierungspartei zur Zustimmung bewegt werden können.

EU lehnt Schiedsgericht ab

Die Unterhändler aus London hatten vorgeschlagen, dass ein Schiedsgericht bei der Nordirland-Regelung darüber entscheiden würde, wann der sogenannte Backstop enden könnte. Die EU lehnte das allerdings ab. Der Backstop ist ein Notfall-Szenario, demzufolge Nordirland im EU-Binnenmarkt bleiben soll, bis eine dauerhafte Handelsvereinbarung zwischen beiden Seiten geschlossen ist. Damit soll verhindert werden, dass eine harte Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland entsteht.

Der Brexit-Vertrag ist für die britische Regierung nur die eine Seite. Von den 161 EU-Vereinbarungen mit Drittstaaten werden höchstens 64 bilateral weiter gelten. Deshalb sollten einzeln mit den Staaten neue Abkommen geschlossen werden. Doch dieser Prozess kommt nur schleppend voran. Besonders schlecht sieht die Bilanz des Außenhandelsministeriums DIT aus. Minister Liam Fox und sein Team haben sechs Handelsabkommen mit kleineren Nationen abgeschlossen. Dabei hatte der prominente Brexiteer Fox gern behauptet, sämtliche 40 bestehende EU-Verträge mit 71 Nationen würden am 30. März „eine Sekunde nach Mitternacht“ in Kraft treten.

Beinahe 90 Prozent seiner Mitglieder machten sich Sorgen über möglicherweise lange Verzögerungen an den Landesgrenzen, wenn der Brexit-Vertrag nicht zustande kommt, hat der Industrieverband CBI herausgefunden. „Die Brexit-Blockade verursacht heute schon Schaden und wird morgen für eine geschwächte Wirtschaft sorgen“, prophezeit CBI-Chefökonom Rain Newton- Smith. Unter normalen Umständen müsste der Handelsminister seinen Hut nehmen. Der ist aber nicht nur ein langjähriger politischer Verbündeter der Premierministerin. Als einziger aus der Troika von prominenten Brexit-Propagandisten, die May im Juli 2016 ins Amt berief, gehört der 57-Jährige noch dem Kabinett an. Die Entlassung von Fox kann sich die Regierungschefin also nicht leisten, ohne noch mehr eigene Brexit-Befürworter aus den eigenen Reihen zu verprellen.

Wenig Vertrauen in Brexit-Kurs

Wie wenig Vertrauen die eigenen Spitzenbeamten in den Brexit-Kurs der Regierung haben, macht eine Personalie deutlich. Das Brexit-Ministerium kündigte in der letzten Woche an, der 57-jährige Chef, Staatssekretär Philip Rycroft, werde in den Ruhestand versetzt. Der letzte Arbeitstag des Spitzenbeamten wäre dann gleichzeitig der letzte Tag von Großbritanniens mehr als 46-jähriger EU-Mitgliedschaft. Rycrofts Ministerium hat in einer Studie deutlich gemacht, welch verheerende Wirkung ein „No Deal“ für die britische Wirtschaft hätte. Über die kommenden 15 Jahre würde das Wachstum um bis zu neun Prozent geringer ausfallen als bei normalen politischen Verhältnissen.

Für den weiteren Verlauf des Brexit-Dramas gibt es nun mehrere denkbare Szenarien. Im – aus der Sicht von May – besten Fall würde es der Premierministerin doch noch am kommenden Dienstag im Unterhaus gelingen, eine Mehrheit für den Austrittsvertrag zu organisieren. Selbst in diesem Fall müsste May die EU allerdings um eine kurzfristige Verlängerung über das Brexit-Datum vom 29. März hinaus bitten. Der Grund: Für die Verabschiedung der nötigen Begleitgesetze im Unterhaus wird mehr Zeit benötigt.

Sollte May am kommenden Dienstag keine Mehrheit erhalten, dann wird es voraussichtlich am Mittwoch zu einer Abstimmung über einen ungeregelten Brexit kommen. Es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass ein No-Deal-Brexit im Unterhaus eine Mehrheit findet. Im Fall der erwarteten Ablehnung des No-Deal-Szenarios werden die Abgeordneten voraussichtlich am Donnerstag darüber abstimmen, ob Großbritannien bei den verbleibenden 27 EU-Staaten eine Verlängerung der Brexit-Frist über den 29. März hinaus beantragen soll. Eine Mehrheit dafür gilt allerdings als wahrscheinlich.

Wie lange wird die Frist verlängert?

Unklar ist allerdings, ob die Brexit-Frist gegebenenfalls lediglich um wenige Monate – etwa bis Ende Juni – oder für einen längeren Zeitraum verlängert werden soll. Sollte Letzteres eintreten, müsste Großbritannien in jedem Fall an der Europawahl teilnehmen – ein Szenario, das auf beiden Seiten des Ärmelkanals für Stirnrunzeln sorgen dürfte.

Einerseits dürfte den Brexiteers auf der Insel eine neuerliche Teilnahme an den Wahlen zum Straßburger Parlament kaum zu vermitteln sein. Andererseits würden die Europaabgeordneten aus den verbleibenden 27 EU-Staaten wohl wenig Verständnis dafür haben, dass die Briten zwar die EU verlassen, aber gleichzeitig bei den bevorstehenden Entscheidungen über den nächsten Kommissionschef und die nächste EU-Finanzperiode noch dabei sein sollen. (mit dpa, AFP)

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