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Großbritannien: Der Brexit zeigt die Schwächen der britischen Demokratie

Das Brexit-Votum ist in Wahrheit als Ablehnung von Westminster zu verstehen - einem politischen System, in dem sich offenbar sehr viele Briten nicht mehr wiederfinden. Ein Kommentar.

Die weißen Felsen von Dover, von denen aus man nach Frankreich hinüberschauen kann, erodieren. Jedes Jahr geht ein Zentimeter der Felsen verloren. Die Erosion des politischen Systems in Großbritannien vollzieht sich deutlich schneller. Am vergangenen Donnerstag ist das halbe Regierungsviertel von Westminster ins Meer gerutscht: David Cameron ist schon untergegangen und Labourchef Jeremy Corbyn ist kurz davor. In einer Situation, in der es um die Zukunft des Landes geht, in der die EU auf ein schnelles Ausscheiden drängt und in der die Schotten bereits die nächste Abstimmung zur Abspaltung vorbereiten, sind die beiden großen Parteien des Landes führungsunfähig.

Das Referendum hat in großer Dramatik deutlich gemacht, dass das britische Zweiparteiensystem am Ende ist. Es bildet ein Land ab, das es nicht mehr gibt. Zum Sieg der „Leave“-Kampagne hat sich eine Koalition aus konservativen Nationalisten, linken Marktgegnern und sozial Abgehängten zusammengefunden. Diese Koalition ging quer durch die beiden großen Parteien und hat deren mangelnde Geschlossenheit aufgezeigt. So sehr das bei den Konservativen durch das persönliche Duell zwischen David Cameron und Boris Johnson sichtbar wurde, war für den Ausgang des Referendums eher der Zustand der Labour Party verantwortlich. Wie auch beim Schottlandreferendum war die Partei nicht in der Lage, ihre traditionellen Wähler zu binden: Der englische Norden hat gegen die EU gestimmt.

Ukip ist im Parlament dramatisch unterrepräsentiert

Gleichzeitig hält das britische Wahlsystem Parteien aus Westminster heraus, wie die, die sich nun als Sieger des Referendums verstehen. Nigel Farages United Kingdom Independent Party (Ukip) bekam bei den Wahlen im vergangenen Jahr für ihre 12,6 Prozent der Stimmen lediglich einen Sitz im Unterhaus. Die AfD, die bei den Landtagswahlen in Brandenburg ähnliche 12,2 Prozent der Stimmen gewann, hat dagegen elf Sitze. Ukip ist, was immer man von der Partei halten mag, im britischen Parlament dramatisch unterrepräsentiert.

Die Ablehnung, die während des Referendums Brüssel entgegenschlug, ist in Wahrheit als Ablehnung von Westminster zu verstehen – einem politischen System, in dem sich offenbar sehr viele Briten nicht mehr wiederfinden. Je mehr Vertreter dieser institutionellen, im wohlhabenden London versammelten Elite sich für den Verbleib in der EU einsetzten, etwa der Chef der Bank von England oder der Erzbischof von Canterbury, desto stärker wurde offenbar der Widerstand. Das politische Establishment hat die Kontrolle über diesen Prozess schon vor langer Zeit verloren.

Das Ergebnis des Referendums wiederum entfremdet jene, die bisher mit dem politischen System identifiziert wurden und von ihm profitiert haben. Es hat Sieger und Verlierer ausgetauscht und so noch bestehende politische Bindungen zerstört. Dass David Cameron am Freitagmorgen müde, aber erstaunlich gelassen vor die Presse trat, mag sich so erklären: dass er meint, Klarheit geschaffen zu haben über die britische Haltung zur EU. Dabei ging es bei dem Referendum am Ende nicht um die Entfremdung von Brüssel, sondern um die von Westminster, und um ein Misstrauen gegenüber den politischen Eliten. So hat das Referendum auch etwas anderes geschaffen: Klarheit über die Schwachstellen der britischen Demokratie.

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