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Theresa May nach dem überstandenen Misstrauensvotum

© AFP/Oli Scarff

Update

Theresa May und der Brexit: Eine Premierministerin auf Abruf

Die britische Premierministerin Theresa May übersteht das Misstrauensvotum ihrer Konservativen. Was bedeutet das für sie und den Brexit?

Seit Wochen stand das Parlament von Westminster im Mittelpunkt der politischen Debatte Großbritanniens und weit darüber hinaus. Am Mittwoch aber ist der neugotische Palast an der Themse auf den Konferenzraum 14 zusammengeschrumpft. Dort entschied sich am Abend in einem Wahlvorgang das Schicksal der Premierministerin: Theresa May gewann die Misstrauensabstimmung in ihrer konservativen Fraktion mit 200:117 Stimmen. Allerdings erklärte sich die 62-Jährige zur Regierungschefin auf Abruf: Sie werde ihre Partei nicht in die nächste Unterhauswahl führen.

Wie kam es zum Misstrauensantrag und warum jetzt?

Die Brexit-Ultras trommeln seit Monaten gegen die Premierministerin, die sie für zu weich halten. Stattdessen befürworten Leute wie Ex-Umweltminister Owen Paterson oder der Leiter der als Europäische Forschungsgruppe (ERG) getarnten Hardliner-Lobby, Jacob Rees-Mogg, den Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung. Rees-Mogg und seine Getreuen riefen schon im November zum Putsch auf, scheiterten damals aber kläglich.

Die Verschiebung der Parlamentsabstimmung über das Paket aus EU-Austrittsvertrag und politischer Erklärung, das die Regierungschefin Ende November mit den 27 EU-Partnern ausgehandelt hatte, bot den Hardlinern jetzt neuen Anlass. Mindestens 48 Abgeordnete erklärten der Premierministerin schriftlich ihr Misstrauen in Briefen an Graham Brady. Der 51-Jährige amtiert als Leiter des 1922-Ausschusses, einer Interessenvertretung der Tory-Hinterbänkler.

Auf Drängen von May entschloss sich Brady zu raschem Vorgehen: Per WhatsApp-Nachricht gab er am Mittwoch gegen 7.30 Uhr, also vor Öffnung der Londoner Börse, allen Fraktionsmitgliedern Bescheid. Das Vertrauensvotum ging abends zwischen 18 und 20 Uhr Ortszeit über die Bühne, das Ergebnis kam eine Stunde später. Die Brexiteers sind über die Blitzwahl verärgert. Denn Brady hat sie mit der Beschleunigung des Verfahrens der Chance beraubt, über das dritte Adventswochenende Druck aufzubauen.

Wie kam Mays Mehrheit zustande?

Am Mittwoch Nachmittag hatten einer BBC-Zählung zufolge bereits mehr als 180 Abgeordnete der Chefin die Treue geschworen. Kenner der Tory-Partei mahnten aber zur Vorsicht: Öffentliche Erklärungen seien nicht gleichzusetzen mit dem geheim gemachten Kreuz auf dem Wahlzettel.

Auf dem Papier bedurfte May lediglich der einfachen Mehrheit, 159 der 317 stimmberechtigten Tory-Mandatsträger. Dass aber mehr als ein Drittel der Fraktion der Chefin die Gefolgschaft versagt, stellt eine schwere Bürde dar.

Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum kann May allerdings ein Jahr lang nicht mehr herausgefordert werden. Bei einer Niederlage wäre sie Partei- und Regierungschefin auf Abruf gewesen, nämlich bis zur Wahl einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers durch das konservative Parteivolk.

Wie positionierten sich führende Konservative?

Es gibt Berichte, nach denen May nicht nur die Absicht hat, vor der Wahl 2022 zurückzutreten, sondern bereits nach einem erfolgten Brexit am 29. März 2019.

Wie der Justizminister gelobten auch die Ressortschefs des Äußeren (Jeremy Hunt) und Inneren (Sajid Javid) der Chefin Loyalität – beide gelten als Anwärter auf Mays Nachfolge, weshalb sie sich in letzter Zeit beim überwiegend EU-feindlichen Parteivolk angebiedert haben.

Die besten Aussichten als spätere Nachfolger hätten aber jene, die nicht wie Hunt und Javid beim Referendum 2016 für den EU-Verbleib geworben hatten. Die aussichtsreichsten Anwärter sind deshalb Ex-Außenminister Boris Johnson sowie die beiden Ex-Brexitressortchefs David Davis und Dominic Raab; von Davis wird gemunkelt, er wolle zugunsten seines Protegés Raab zurückziehen. Johnson hat zuletzt abgenommen und sich vergangene Woche vom Unterhaus-Friseur den normalerweise strubbligen Blondschopf etwas windschnittiger machen lassen. „Rückenwind für Boris“, hat dessen Biograph Andrew Gimson zu Wochenbeginn registriert.

Michael Gove hingegen, einer der prominentesten Brexit-Vorkämpfer, gelobte May zu unterstützen: „Es wäre falsch, zu diesem Zeitpunkt einen neuen Premierminister zu installieren.“ Die Formulierung „zu diesem Zeitpunkt“ war mit der Downing Street abgesprochen. Ob May im kleinen Kreis tatsächlich ein Versprechen abgegeben hat, ihr Amt nach dem geplanten Austrittstermin Ende März aufzugeben? Jedenfalls sollte Goves Äußerung all jene zögernden Fraktionskolleginnen überzeugen, die wie Nadine Dorries den Alptraum hegen, May werde die Partei auch in den nächsten Wahlkampf führen. Das wollten selbst viele von denen nicht, die den Advents-Putsch für völlig überflüssig halten.

Wird May den Deal nachbessern können?

Zwar sprach Theresa May nach den Gesprächen mit dem niederländischen Premier Mark Rutte, mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Europaratschef Donald Tusk von „Fortschritt“ in der Frage der Auffanglösung für Nordirland, dem sogenannten backstop. Daran kamen aber schon am Mittwoch Zweifel auf. Am Austrittsvertrag werde „nichts verändert“, hieß es unisono von EU-Seite.

Wie geht es mit dem Brexit weiter?

Im Unterhaus sprach die Premierministerin am Mittwoch davon, ein wochenlanger Nachfolgekampf hätte den parlamentarischen Zeitplan umgestoßen. Dieser sieht spätestens bis 21. Januar die diesmal verschobene Abstimmung über den Austrittsvertrag vor. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin, warnte May, müsste „auf jeden Fall Artikel 50 aussetzen oder absagen“ – der Brexit würde also mindestens verschoben. Wollt Ihr das wirklich, lautete die unausgesprochene Frage an die Brexiteers?

Hätte sich ein Hardliner durchgesetzt, wären die Chancen auf den chaotischen Austritt ohne Anschlussvereinbarung schlagartig gestiegen. Allerdings würde die Wahl eines Kandidaten wie Boris Johnson auch die Entschlossenheit all jener verstärken, die mittels eines zweiten Referendums den Brexit rückgängig machen wollen. Dafür wäre eine Parlamentsentscheidung nötig; die entsprechende Mehrheit ist derzeit nicht in Sicht.

Wie geht es für May weiter?

Die 62-Jährige hat vor einigen Tagen beteuert, sie werde „auf jeden Fall“ auch nach Weihnachten einen Job haben. Das stimmt auch tatsächlich, denn Abgeordnete für den Wahlkreis Maidenhead westlich von London wäre May ja auch im Fall des Machtverlustes geblieben. Nun, da ihr die Fraktionskollegen das Vertrauen ausgesprochen haben, muss sie sich wohl schon bald einer neuen Misstrauenswelle stellen. Offenbar will die Labour-Opposition noch vor den parlamentarischen Weihnachtsferien ein entsprechendes Votum gegen die konservative Regierung im Unterhaus einbringen. Ob sie damit erfolgreich sein wird, ist fraglich. Alle innerparteilichen Gegner Mays sowie die nordirische DUP haben erklärt, in einem solchen Fall May beizustehen. Eine Corbyn-Regierung? Da ist den Hardlinern die verhasste Theresa May doch noch lieber.

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