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London: Eine britische Nationalflagge, der Union Jack, weht vor dem Uhrturm Big Ben.

© Michael Kappeler/dpa

Großbritannien: Nach dem Putsch von oben– Brexitus exitus

Ein Europa ohne Großbritannien kann es nicht mehr geben. Es wäre wie die Literatur ohne Shakespeare. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Peter von Becker

Ist dies auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, heißt es in Shakespeares "Hamlet" im zweiten Akt. Hamlets berühmtester Monolog, "to be or not to be", handelt zu Anfang des dritten Akts dann von der Alternative, zu (über)leben oder Selbstmord zu begehen.

Anders als Hamlets vermeintliche Tollheit hat der aktuelle Wahnsinn der Shakespeare-Nation GB allerdings nicht einmal Methode. Trotzdem wirkt der Rest von Europa durch diesen Wahnsinn schon irgendwie mit angesteckt. Kaum glaublich, dass seit gut zwei Jahren mit zunehmender Frequenz die europäische Politik mit unzähligen Sachbearbeitern, Experten, Ministern und Regierungschefs respektive Chefinnen sich tausende Stunden immerzu mit den britischen Zickigkeiten und (internen) Zockereien beschäftigen muss. Statt ihre Zeit einigen ungleich drängenderen Weltproblemen zu widmen. Und genau das ist es, was den Europäern – auch den britischen Europäern, so oder so – inzwischen bis zum Überdruss auf die Nerven geht. Stop, reset, exit!, ist der in diesem Fall vernünftige Impuls.

Man muss sich bloß mal erinnern: Der heute weißgottwo weilende Vorgänger von Theresa May, Ex-Premier David Cameron, hat 2016 aus taktischem Kalkül, ohne Not und mit wenig Rückgrat, das ominöse Brexit-Referendum vom Zaun gebrochen. Wobei ein früherer Oxforder Mitstudent und Kollege Camerons eine Rolle spielte, als politischer Rivale. Kurz gesagt: Shakespeare hatte als Zeitgenossen Ben Johnson. Wir haben jetzt Boris Johnson. Boris’ Urgroßvater war ein liberaler türkischer Publizist und letzter Innenminister des Osmanischen Reichs, er wurde später ermordet. Darauf floh Osman Ali, der Großvater des blonden Boris, nach London und nahm den Namen Wilfred Johnson an. Der Enkel wurde dann ein Oxford Boy (wie David Cameron), Journalist und Politiker. Sie beide, Cameron und Johnson, haben beim Brexit-Referendum auch miteinander um die Macht gezofft und sich angesichts der Folgen beide verzockt.

Eigentlich ist das Ganze ein Putsch von oben. Auf Kosten zunächst des britischen Volks. Boris Johnson, der es aus seiner Familiengeschichte und als langjähriger Bürgermeister der multikulturellen Hauptstadt London eigentlich besser wusste, hat den Pro-BrexitWahlkampf ohne alle Skrupel geführt. Mit populistischer Demagogie, mit Fake News, Fremdenfeindlichkeit und zugleich aberwitzigen Versprechungen für eine nationale Wiedergeburt und ein glorreiches Greater Britain. Dem ist eine sehr knappe Mehrheit der damals überwiegend desinformierten oder vielfach desinteressierten englischen Bevölkerung gefolgt.

Aber auch Theresa May, einige längst erschöpfte EU-Politiker und manche deutsche Kommentatoren fördern bis heute den Irrglauben, ein neuerliches Referendum über den britischen Verbleib in der EU sei "undemokratisch". Man könne nicht nochmal oder so lange abstimmen, "bis einem das Ergebnis passt".

Letzteres ist eine unrealistische, wiederum demagogische Übertreibung. Und das Argument, eine zweite Wahl sei undemokratisch? Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind jetzt drei Jahre weiter, der Wissensstand über einen Vorgang, den es so noch nie gab, ist bei Brexiteers wie EU-Anhängern ungleich höher als 2016, und wer aus drohendem Schaden vorsätzlich nicht klug wird, ist dumm. Oder verantwortungslos.

Demokratie heißt wechselnde Mehrheiten. Und Meinungen. Wer seine Meinung nie ändert, lernt nie hinzu, bleibt stur, ist entweder autoritär oder ein Fanatiker, jedenfalls kein geborener Demokrat. Auch ist das Wahlvolk heute ein millionenfach anderes als 2016. Es geht um die Zukunft Europas und Großbritanniens, eben dies betrifft vor allem die jungen Wähler, die vor drei Jahren noch nicht stimmberechtigt waren. Nach neueren Umfragen sind es eben sie, die heute mehrheitlich für Europa stimmen würden. Und ein Europa ohne Großbritannien kann es nicht mehr geben. Es wäre wie die Literatur ohne Shakespeare.

Wenn eine elementare Zukunftsfrage vom demokratischen Souverän nicht neu bedacht werden darf, gleicht dies dem Verbot zu denken. Weil denken gerade auch nachdenken bedeutet. Ein Teil der politischen Klasse, vertreten im britischen Unterhaus, verweigert das noch. Die Betonung liegt auf "noch". Denn die Zeit ist schon weiter. May, Johnson und Corbyn sind schon Gespenster. Englands Politiker, so lautet ein Scherz frei nach Brecht, sollten sich ansonsten ein anderes Volk wählen. Brexitus exitus.

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