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Großbritannien: Politiker bereiten Afghanistan-Rückzug vor

Immer mehr tote Soldaten und nun der Wahlbetrug: Briten bereiten den Ausstieg aus Afghanistan vor.

Das Ritual ist durch Zufall entstanden und in seiner Schlichtheit umso bewegender. John Beauchamp von der Veteranenvereinigung British Legion sah eines Tages den Leichenwagen mit einem Soldatensarg durch Wootton Bassett fahren. Er wusste, dass er vom nahegelegenen Royal Airforce Stützpunkt Lyndeham kam, wo die Toten aus dem Irak und nun aus Afghanistan ankommen. John rief bei der Airforce an: „Gebt uns in Zukunft Bescheid“.

Nun hängt Margaret Friend Zettel in ihrem Geschenkeladen auf. Es gibt einen Aushang in der Bücherei. John ruft Veteranen an. Immer wenn die Särge kommen, stehen die Bürger von Wootton Bassett nun schweigend am Straßenrand, lassen die Arbeit liegen, kommen aus Cafés und Geschäften und legen, wenn die Totenglocke von St. Bartholomew schlägt, die Hände zusammen. „Es ist unsere Art, den Jungs zu danken“, sagt John.

Aber das Trauerritual, das im Sommer oft zweimal pro Woche stattfinden musste, wird immer mehr ein stummer Protest. Wie am Donnerstag, als die Fernsehkameras auf die schluchzende Emma-Jayne Webster und die kleine Kaitlin gerichtet waren. Im Sarg lag Kaitlins Vater, der 24-jährige Gefreite Richard Branson, in Helmand von einer Bombe zerrissen.

Mit den Bildern von Wootton Bassett begann, ganz still, der Protest gegen den Krieg in Afghanistan. 213 britische Soldaten sind dort bisher gefallen. Mit jedem Toten wurde die stumme Frage gestellt: Wofür? Der Einsatz galt, im Gegensatz zum Irak, als der „gute Krieg“. Doch nun hat er nach einer Umfrage des German Marshall Fund bei den Briten die geringste Unterstützung in ganz Europa. 60 Prozent wollen den Abzug der Soldaten. Debatten über mangelhafte Panzerfahrzeuge und fehlende Hubschrauber bestimmten wochenlang die Diskussion. Sogar die Queen soll besorgt sein.

Der Wahlbetrug in Afghanistan verstärkt den Verdruss. Oppositionschef Cameron sprach von „nacktem Betrug“. „Dafür haben unsere Soldaten ihr Leben gegeben?“, fragen die Medien. Wenn Großbritannien diesen Betrug absegne, werde die Armee jedes Vertrauen verlieren, warnte Schattenaußenminister William Hague. Außenminister David Miliband gab jetzt zu: „Die Wahl war nicht frei und fair“.

Politiker haben begonnen, auf die Stimme des Volkes zu hören. Tories und Liberaldemokraten distanzierten sich als erste von der bisher gemeinsam getragenen Politik. Aber ihre Rufe nach einer zweiten Wahlrunde oder einer Neuwahl in Afghanistan sind nur der Anfang. Der Konsens für den Kriegseinsatz bröckelt. Beobachter gehen davon aus, dass der Liberaldemokrat Nick Clegg als erster eine klare Frist für den Abzug der Soldaten fordern wird.

Selbst auf Labours Hinterbänken, wo viele ohnehin gegen den Krieg waren, wächst die Opposition. Offener Widerstand brach aus, als Eric Joyce, ein ehemaliger Oberst, als parlamentarischer Sekretär des Verteidigungsministers zurücktrat. Premier Brown müsse sich mehr einfallen lassen, um den Krieg zu rechtfertigen, als nur die Terrorgefahr auf Großbritanniens Straßen, sagte Joyce.

Als Gordon Brown darauf in einer groß angekündigten Rede den Einsatz verteidigen wollte, war er nervös, verhaspelte sich, ohne Überzeugungskraft. Ausweichend sprach er von „zeitgebundenen Zielen“. Die afghanische Wahl erwähnte er mit keinem Wort. Dann fuhr er nach Berlin, um mit Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Afghanistankonferenz zu beschließen. Jahrelang forderte Großbritannien von Deutschland mehr Einsatz, mehr kämpferisches Soldatentum, mehr Truppen. Nun beraten sie gemeinsam über einen Strategiewechsel.

Vierzig Minuten telefonierte Brown am vergangenen Freitag mit US-Präsident Barack Obama. Es geht darum, die Exit-Strategie festzuklopfen. Die Forderung nach einem beschleunigten Aufbau der afghanischen Armee bildet dabei den Anfang. Drei Jahre, nicht länger, dürfe das dauern, forderte der frühere Außenminister Malcolm Rifkind in der „Times“. Für Großbritannien, schrieb der Economist, könnte die Ära der Kriege zu Ende gehen.

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