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Wie sieht die Verbindung künftig aus?

© dpa

Großbritannien: Welcher Brexit soll es denn sein?

In Großbritannien nimmt die Debatte über die Form des Austritts aus der EU jetzt Fahrt auf. Neben den künftigen Handelsbeziehungen geht es vor allem um Zuwanderung.

Boris Johnson hat Geschichte gemacht. Hätte er sein populäres Moppel-Ich im Februar nicht der Austrittskampagne zur Verfügung gestellt, sie wäre möglicherweise erfolglos geblieben. Es gäbe keinen Brexit, keine Premierministerin Theresa May, keinen blonden Außenminister. Aber nun sitzt Johnson im Foreign Office und muss darüber nachdenken, was die Folgen sind, wenn man Geschichte gemacht hat. Das Brexit-Votum ist auf dem Parteitag der US-Republikaner als große Ermutigung für Donald Trumps Kampagne „America First“ empfunden worden. „Take back control“ und „Take our country back“ waren die Slogans, mit denen die Brexiter operierten und die dem Trump-Lager gut gefallen. Nun distanzierte sich ausgerechnet Johnson. Brexit bedeute nicht Isolationismus, erklärte er, sondern das Gegenteil. Großbritannien öffnet sich nach dieser Lesart der Welt.

Daheim in London muss Johnson nun wohl einige Personalgespräche führen, mit jungen Diplomaten, die Exit-Britannien in der Welt vertreten sollen, und mit erfahrenen Diplomaten, welche in die zwei neuen Ministerien wechseln, die noch stärker als das Foreign Office mit den Folgen des Referendums beschäftigt sind: das Brexit-Ministerium von David Davis und das Ministerium für internationalen Handel unter Liam Fox. Erfahrene Beamte, die sich mit der Gestaltung von Handelsverträgen auskennen, gibt es nur wenige. Sämtliche Ministerien in London sind betroffen und brauchen auch Zuwachs, weil alles, was über Jahre und Jahrzehnte an Bürokratie nach Brüssel ausgelagert wurde, nun wieder auf nationaler Ebene zu regeln ist. Der historische Vorgang, einerseits die größte Freihandelszone der Welt zu verlassen, andererseits eine eigene neue Freihandelswelt zusammenzubasteln, mit vielen bilateralen Abkommen – er bedeutet mehr Personal, mehr Bürokratie, mehr Kosten. Davon war beim Stimmenfang der Brexiter nicht die Rede.

Die EU zum Moloch verzerrt

Vor dem EU-Referendum haben die Austrittsbefürworter den Eindruck erweckt, Großbritannien könne die Vorteile des EU-Binnenmarkts weiter genießen, müsse aber Nachteile der gern als Moloch diskreditierten EU nicht mehr auf sich nehmen. Da die Brexit-Kampagneros die Abstimmung auch zu einem Votum über die Migrationspolitik umfunktionierten, mit der Aussicht, es werde weniger Zuwanderung vor allem aus der EU geben (keine Polen mehr!), sind sie gezwungen, hier zu liefern – und May wird vorerst von ihnen getrieben. Die wirtschaftlichen Nachteile des Brexits werden ihnen jedoch bald vor Augen treten (der Einkaufsmanagerindex des Markit-Instituts etwa brach im Juli schon stark ein). Deshalb müssen sie auf einen zügigen Deal dringen. May dagegen will sich etwas Zeit lassen, ihre Regierung hat bisher keinen Plan. Denn was Brexit-Minister David Davis vorgeschlagen hat – ein bilaterales Freihandelsabkommen nach dem Muster der Ceta-Vereinbarung der EU mit Kanada – ist nicht offizielle Regierungslinie. Die dürfte, angesichts der engen wirtschaftlichen Integration, auf ein Abkommen ähnlich dem der EU mit Norwegen hinauslaufen. Das skandinavische Land ist zusammen mit Island und Liechtenstein mit der EU im Europäischen Wirtschaftsraum verbunden, praktisch Mitglied im Binnenmarkt, aber ohne Stimme in den EU-Gremien. Zudem zahlt es in die EU-Töpfe ein, per Einwohner sogar mehr als Großbritannien. Die Regierung in Oslo hat die Freizügigkeit von Personen akzeptiert - das war eine Bedingung der EU.

Hoffen auf einen Schock

Das jedoch lehnen die Brexiter ab. Sie wollen eine möglichst enge wirtschaftliche Bindung an die EU, aber keine uneingeschränkte Freizügigkeit. Sie setzten immer auf, dass ein Brexit-Votum auf dem Kontinent einen „Realitätsschock“ auslösen würde – und eine Bewegung hin zu einer lockeren EU in ihrem Sinne, die es einfacher machen würde, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Der auf der Insel angesehene konservative Politologe Vernon Bogdanor empfahl unlängst, die EU-Führer müssten doch nur ein Einsehen haben, die Freizügigkeit der Bürger einschränken und sich von der „ever closer union“ formell verabschieden. Dann könne es ein zweites Referendum geben und die Briten wären wieder im Boot. Aber so einfach wird es vermutlich nicht gehen, und der "Schock" ist auf dem Kontinent ausgeblieben (es herrscht eher Enttäuschung über die britische Entscheidung).

Johnson sagt jetzt, es könne eine „Balance“ geben zwischen Freihandel und Freizügigkeit, ohne das zu konkretisieren. Nach einem Bericht des „Observer“ gibt es in London und Brüssel Überlegungen, Großbritannien bei einem Verbleib im Binnenmarkt eine „Notbremse“ bei der Einwanderung zuzugestehen – begrenzt auf sieben Jahre für den Fall, dass der Arbeitsmarkt sehr angespannt ist. Das ist derzeit nicht so, die Arbeitslosenquote ist trotz Einwanderung die niedrigste seit 2005. Ein massiver Anstieg wäre wohl weitgehend eine Brexit-Folge. Doch warum sollen die Europäer auf die Freizügigkeit verzichten, eine der vier Grundfreiheiten neben dem freien Verkehr von Waren, Kapital und Dienstleitungen, nur weil sich die Briten selber ein Problem geschaffen haben? Wenn es freilich zu einer für London günstigen Regelung käme, ob nun "Notbremse" oder eine Opt-out-Vereinbarung, dann dürfte das mit Einschränkungen in anderen Bereichen verknüpft sein - zum Beispiel bei den Finanzdienstleistungen. Was den Ball zurückspielen würde, weil die Brexiter dann mit der Interessenslage der eigenen Finanzindustrie konfrontiert werden. Und an der Londoner City hängt der ganze Wohlstand der Insel.

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