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Semih Özakcaa (Mitte) and Nuriye Gülmen (3.v.l.), beide in Rollstühlen, hungerten in Ankara aus Protest gegen ihre Entlassung. Jetzt sind sie festgenommen worden.

© Adem Altan/AFP

Groteske Verfolgung von Regierungsgegnern: Ankara wertet Hungerstreik als einen Terrorakt

Wochenlang protestierten zwei türkische Akademiker gegen ihre Entlassung mit einem Hungerstreik. Nun fordert die Justiz 20 Jahre Haft für die beiden - sie seien gefährliche Staatsfeinde.

Die Verfolgung von Regierungsgegnern in der Türkei nimmt immer groteskere Formen an. Die Justiz fordert jetzt bis zu 20 Jahre Haft für zwei Akademiker, weil diese mit einem Hungerstreik gegen ihre Entlassung aus dem Staatsdienst im Zuge der Kündigungswelle seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres protestieren. Die Regierung und die Staatsanwaltschaft sehen in dem mehr als zweimonatigen Protest-Fasten einen Terrorakt und stellen die Hungerstreikenden Nuriye Gülmen und Semih Özakca als Staatsfeinde dar.

Die Aktion der Universitätsassistentin Gülmen und des Volksschullehrers Özakca hatte in den vergangenen Wochen immer mehr Aufmerksamkeit erregt, auch weil ihr Schicksal von so vielen geteilt wird: Seit dem Putschversuch sind mehr als 100.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen worden. Unter den Regeln des Ausnahmezustandes gibt es keine Möglichkeit, dagegen zu klagen. Kritiker im In- und Ausland werfen Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, den Putschversuch als Vorwand zu benutzen, um gegen Andersdenkende vorzugehen.

Festnahme nach 75 Tagen

Ihren Protest vor einem Menschenrechtsdenkmal in Ankara wandelten Gülmen und Özakca im März in einen Hungerstreik um, bei dem sie nur noch Wasser und etwas Zucker zu sich nehmen. Vor Kurzem – am 75. Tag der Fastenaktion – war die Polizei eingeschritten, hatte Gülmen und Özakca festgenommen und die Umgebung des Denkmals abgesperrt. Dort versammeln sich weiter Unterstützer der Hungerstreikenden; am Donnerstag nahm die Polizei laut Medienberichten wider zwei Menschen an dem Denkmal fest.

"Jeder wird zum Terroristen erklärt"

Aus der Sicht von Erdogan-Gegnern ist die Festnahme der Akademiker, die auch in Haft weiter hungern wollen, ein neues Beispiel dafür, dass in der Türkei inzwischen selbst der friedliche Ausdruck von Kritik und Protest als Terrorangriff verfolgt werden kann. Ali Sertel, ein Oppositionsabgeordneter in Ankara, warf der Regierung im Parlament vor, „jeden zum Terroristen“ zu erklären. Der ehemalige Erdogan-Sprecher Akif Beki schrieb in der Zeitung „Hürriyet“, im Grunde werde den Hungerstreikenden der Vorwurf gemacht, das eigene Verhungern als Waffe gegen den Staat einzusetzen.

Tatsächlich hält Innenminister Süleyman Soylu den Hungerstreikenden vor, im Auftrag der linksextremen Gruppe DHKP-C das Land erschüttern zu wollen. Die beiden seien seit mehreren Jahren Mitglieder der verbotenen Organisation, sagte der Minister – ohne zu erläutern, warum sie nicht längst festgenommen wurden, wenn den Behörden entsprechende Verbindungen bekannt waren. Laut Medienberichten spricht die Staatsanwaltschaft von einem Versuch der beiden Beschuldigten, regierungsfeindliche Unruhen wie bei den Gezi-Protesten 2013 loszutreten.

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