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Sie wird's: Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock soll ihre Partei als Kanzlerkandidatin in die Bundestagswahl führen.

© Kay Nietfeld/dpa

Grünen-Entscheidung über Kanzlerkandidatin: Und wenn Deutschland noch nicht reif ist für Baerbock?

Sie ist jung und ohne Regierungserfahrung – aber Annalena Baerbock verkörpert den Wandel. Den muss jetzt nur noch jemand wollen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Zum ersten Mal in der Geschichte der Grünen ist das Kanzleramt in Reichweite. Alles daran ist jetzt schon historisch: Erstens, die Grünen gehören jetzt zu den Erwachsenen. Zweitens, es kandidiert eine Frau; auf eine Kanzlerin könnte also wieder eine Kanzlerin folgen. Drittens, eine neue Generation schickt sich an, den Babyboomern die Regierung abzunehmen. Nein, Annalena Baerbock ist nicht irgendeine Spitzenkandidatin. Ihre Kandidatur ratifiziert die Revolution der vergangenen Jahrzehnte – und ist zugleich der Beginn der nächsten.

Die gesellschaftliche Revolution der vergangenen Jahrzehnte, deren Ergebnis Baerbock ist, war letztlich eine gemächliche und graduelle. Der Weg der Grünen vom politischen Paria zur Mitte-Partei mit Kanzlerkandidatin hat 40 Jahre gedauert. Noch in den 90ern mussten sich damals junge CDU-Abgeordnete wie Armin Laschet geradezu heimlich in Pizzeria-Kellern mit grünen Kollegen treffen, weil das konservative Parteiestablishment die Ökos für unberührbar hielt. Seit jener Zeit hat sich langsam, aber stetig bis weit in die Mitte der Gesellschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass Nachhaltigkeit wichtig ist. Ähnliches gilt für die Gleichstellung von Frauen, die nicht zuletzt Konservative wie Rita Süssmuth vorantrieben.

Was den Grünen jetzt vorschwebt (und übrigens auch vielen in der FDP und SPD), ist ein schnellerer, radikalerer Wandel: der Umbau der Wirtschaft zu einer „Kreislaufwirtschaft“ mit stärkerer Gemeinwohlorientierung, um das Ziel, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, noch zu erreichen, dazu massive öffentliche Investitionen in Zukunftstechnologien und Digitalisierung und gesellschaftspolitisch eine Umverteilung der Anerkennung, zum Beispiel zugunsten von Corona-Front-Arbeiter:innen, berufstätigen Frauen, Alleinerziehenden.

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Das ist auch die Mission einer Generation. Baerbock ist 1980 geboren, im Scharnierjahr zwischen der Generation X und den Millennials. Ihre Generation wiederum ist das Scharnier zwischen den Babyboomern und der Generation Y, die die Fridays for Future-Bewegung trägt. Baerbocks Generation mag nicht ganz so stürmisch sein, aber sie sympathisiert mit dem Credo der jüngsten Wähler: Die Lage ist dramatisch – sowohl was das Klima angeht, als auch die mentale und physische Infrastruktur Deutschlands –, also lasst uns etwas ganz Großes machen.

Etwas ganz Großes machen, das könnte Baerbock. Über ihre mangelnde Regierungserfahrung, ihre vermeintlich fehlende Kompetenz in Wirtschafts- und Finanzdingen wird man in den kommenden Monaten noch viel lesen. Dafür werden Olaf Scholz und Wer-auch-immer-Unionskandidat-wird schon sorgen. Erfahrung ist der größte Trumpf von Baerbocks politischen Gegnern.

Sie hat den unbedingten Willen sich weiterzuentwickeln

Aber auch hier steht Annalena Baerbock für den Wandel – einen Wandel in der politischen Kultur. Baerbock ist nicht völlig anders, sowohl mit Armin Laschet als auch mit Markus Söder scheint sie den Macht- und Gestaltungswillen zu teilen, mit Söder die eiserne Disziplin. Was sie aber von den beiden unterscheidet, ist der unbedingte Wille, sich weiterzuentwickeln, das strategische Abarbeiten von Wissens- und Fähigkeitslücken. Hinter den Kulissen hat sie im vergangenen Jahr immer wieder auch Gespräche mit Journalisten geführt. Saß ein Thema noch nicht so, hatte sie es beim nächsten Mal drauf. Man konnte ihr beim Wachsen zusehen.

Und vielleicht ist es ja auch nicht schlecht, wenn mal jemand in das höchste Regierungsamt kommt, den sich Deutschlands analoge und komplizierte Verwaltungsjuristen noch nicht so zurechtgebogen haben, dass sie in ihr kleines Karo passt. Nein, sie kann, wenn man sie lässt. Die Frage ist: Lässt man sie? Wie progressiv sind die Deutschen 2021? Wie groß ist die Akzeptanz für all die Revolution, die schon passiert ist? Wie aufbruchbereit sind die Menschen? Oder, kurz: Trauen sich die Deutschen Annalena Baerbock?

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