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Der Brexit-Beauftragte der EU, Guy Verhofstadt

© AFP/Emmanuel Dunand

Guy Verhofstadt zu Brexit-Gesprächen: "Das Problem ist psychologischer Natur"

Nach Ansicht des Brexit-Beauftragten des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, fehlt es an Vertrauen bei den Verhandlungen über den EU-Austritt Großbritanniens.

Herr Verhofstadt, werden Sie die Briten vermissen, wenn das Vereinigte Königreich im März 2019 aus der EU austritt?

Es ist schade, dass Großbritannien aus der EU ausscheidet. Vor allem aus geopolitischen Gründen ist das ein Verlust. Aber seien wir ehrlich: Seit der Brexit-Entscheidung in Großbritannien vom Juni 2016 hat sich die öffentliche Meinung in vielen Ländern gedreht – die Leute wollen nicht mehr raus aus der EU. Sie wollen keinen Frexit, Nexit, Dexit oder was auch immer. Der Brexit hat eine abschreckende Wirkung.

Bei den Brexit-Verhandlungen in Brüssel gab es auch in der zurückliegenden Woche kaum Fortschritte. Aber in spätestens einem Jahr soll eine Austrittsvereinbarung stehen, damit es nicht zum Chaos beim Brexit im März 2019 kommt. Gelingt das?
Ich gehe davon aus, dass wir bis zum Ende des kommenden Jahres eine Austrittsvereinbarung haben werden. Bei solchen Verhandlungen gibt es immer erst einmal ein Kräftemessen, bevor dann der Durchbruch kommt.

Wie soll das gelingen? Im Moment sieht es nicht danach aus.
Wenn die britische Regierung zu einer widerspruchsfreien Haltung kommt, kann das in den kommenden Monaten klappen. Bis jetzt streiten die Tories immer noch darüber, welchen Kurs Großbritannien bei den Verhandlungen eigentlich verfolgen soll. Man kann aber nicht verhandeln, wenn es auf der anderen Seite drei oder vier verschiedene Meinungen gibt.

Wer hat Ihrer Meinung nach in der britischen Regierung das Sagen? Die Premierministerin Theresa May oder ihr Gegenspieler, der Außenminister Boris Johnson?
Ich bin kein Experte für das Innenleben der britischen Konservativen. Ich kann einfach nur hoffen, dass es in den nächsten Monaten zu einer Klärung zwischen den Hardlinern und den Vertretern eines „sanften Brexit“ kommt.

Inzwischen hat die britische Regierung Pläne für den Fall eines ungeregelten Ausstiegs aus der EU vorgelegt. Darin ist von Zollkontrollen für Waren aus der EU im britischen Hinterland jenseits der Fährhäfen die Rede.

Es ist doch normal, dass man sich auf beiden Seiten des Kanals auch auf das schlimmste Szenario eines ungeordneten Brexit vorbereiten muss. Entscheidend an der Entwicklung der letzten Wochen ist aber etwas anderes: In ihrer Rede in Florenz hat die britische Regierungschefin May im September ein Entgegenkommen signalisiert. Aber eine Rede ist das eine, die Realität am Verhandlungstisch ist das andere. Und dort haben Londons Unterhändler anschließend nicht das geliefert, was die Rede versprochen hat.

Woran hakt es bei den Gesprächen?
Zunächst geht es ums Geld. Es geht darum, dass Großbritannien allen finanziellen Verpflichtungen nachkommt, die in der Zeit der EU-Mitgliedschaft entstanden sind. Zwar hat May in ihrer Rede in Florenz erklärt, dass London sämtliche finanziellen Verpflichtungen erfüllen werde. Trotzdem wird in der britischen Öffentlichkeit weiterhin der Eindruck erweckt, als verlange die EU dabei etwas, was ihr gar nicht zustehe. So heißt es in Großbritannien gelegentlich, es gehe um eine „Austrittsgebühr“. Der Begriff gefällt mir nicht, denn das klingt so, als wollten wir die Briten bestrafen. Das stimmt aber nicht. Großbritannien muss eine rechtliche Verpflichtung einhalten, die sich aus den Beschlüssen sämtlicher 28 Staats- und Regierungschefs der EU ergibt. Es geht einfach nur darum, die Rechnungen zu begleichen, so wie das bei einem Austritt aus einer Organisation sonst auch üblich ist. Und die finanziellen Verpflichtungen, die Großbritannien innerhalb der EU eingegangen ist, reichen bis in das kommende Jahrzehnt hinein.

Das heißt?
Das bedeutet, dass man eine Familie nach einer Scheidung nicht mit dem Rest der finanziellen Lasten allein lassen kann. Konkret: In der laufenden EU-Haushaltsperiode sind auch Projekte vorgesehen, bei denen EU-Gelder am Ende erst im Jahr 2025 fließen werden. Auch daran wird sich Großbritannien beteiligen müssen.

Gibt es neben dem Geld noch weitere Knackpunkte?
Aus der Sicht des Europaparlaments ist es besonders wichtig, dass alle EU-Bürger in Großbritannien auch weiterhin dieselben Rechte genießen können wie bisher – genauso wie die britischen Bürger auf dem Kontinent. Es kann nicht sein, dass für Millionen EU-Bürger neue behördliche Hürden in Großbritannien errichtet werden. Auch beim dritten Punkt der Austrittsgespräche, der Regelung an der Grenze zwischen Irland und Nordirland, gibt es noch keine Einigung. Wir wollen unter allen Umständen vermeiden, dass dort künftig eine harte Grenze entsteht. Großbritannien hat bislang aber keinen Vorschlag in diese Richtung gemacht. Das ist aber nötig, weil es ansonsten in Nordirland zu einer Rückkehr der Gewalt kommen könnte, die vor zwei Jahrzehnten dort an der Tagesordnung war.

Gibt es überhaupt Fortschritte in einem der Bereiche bei den Gesprächen über die Austrittsvereinbarung?
Es gibt zwar Bewegung bei der gegenseitigen Anerkennung der Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und von Briten auf dem Kontinent. Aber wir sehen das Ganze als Paket. Erst wenn es auf allen drei Feldern – Finanzen, Bürgerrechte und der Grenzfrage – ausreichenden Fortschritt gibt, können wir zur nächsten Verhandlungsphase übergehen, bei der es um die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den EU-27 und Großbritannien geht. Ursprünglich war vorgesehen, dass wir schon in diesem Monat zur nächsten Verhandlungsphase übergehen. Doch dazu wird es nicht kommen.

Wie ist das Verhandlungsklima?
Das Problem ist im Moment eher psychologischer als inhaltlicher Natur. Wir können ja gerne über die Punkte sprechen, die für die Briten wichtig sind – die Übergangsperiode nach dem Brexit und die anschließende Handelsvereinbarung zwischen der EU und Großbritannien. Aber damit das passieren kann, muss erst einmal Vertrauen entstehen. Und Vertrauen entsteht dadurch, dass die andere Seite auch bei den Rechten der EU-Bürger, den finanziellen Fragen und der Grenzregelung genauso ernsthaft bei der Sache ist wie bei ihren eigenen Herzensanliegen.

Werden die Gespräche über die geplante Übergangsperiode nach dem März 2019 einfacher als die bisherigen Verhandlungen?
Auch hier liegen wir bislang über Kreuz. Aus unserer Sicht kann es in der geplanten Übergangsperiode nur darum gehen, dass einige Jahre lang das bestehende System fortbesteht – der Binnenmarkt, die Zollunion, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Die Briten wollen sich aber nur die Rosinen herauspicken. Sie wollen zwar einen freien Warenverkehr, aber keine Personenfreizügigkeit. Das wird aber nicht funktionieren. London sollte nicht übersehen, dass es ein Zugeständnis von unserer Seite ist, wenn wir den Briten nach dem Austritt eine Übergangsperiode einräumen. Denn eigentlich bedeutet die Tatsache, dass Theresa May den Artikel 50 des EU-Vertrages aktiviert hat, nur Folgendes: Großbritannien gehört ab Ende März 2019 nicht mehr der EU an.

Wie lange sollte die Übergangsperiode dauern? Der Bundesverband der Deutschen Industrie wünscht sich, dass die Interimsphase, in welcher der jetzige Status quo erhalten bleibt, möglichst lange währt – und zwar so lange, bis eine neue Handelsvereinbarung zwischen London und Brüssel in Kraft tritt.
Es ist Verhandlungssache, wo man sich bei der Dauer der Übergangsperiode einigt. Die britische Regierung spricht von zwei Jahren, das Europaparlament hat sich für eine Dauer von maximal drei Jahren ausgesprochen.

Der EU-Ratspräsident Donald Tusk hat bei den Gesprächen einen Durchbruch bis Dezember angemahnt. Halten Sie das für möglich?
Dass es bis Dezember zu einem Durchbruch kommt, hoffen wir im Europaparlament ebenfalls. Im Dezember werden sowohl das Europaparlament als auch die Staats- und Regierungschefs, für die Tusk spricht, zu bewerten haben, ob die Gespräche ausreichenden Fortschritt gemacht haben. Dies ist die Bedingung, dass beide Seiten auch über die künftigen Handelsbeziehungen sprechen können.

Was Verhofstadt über Katalonien und Merkels Rolle in der EU denkt

Unabhängigkeitsgegner demonstrieren in Barcelona gegen die Sezession Kataloniens.
Unabhängigkeitsgegner demonstrieren in Barcelona gegen die Sezession Kataloniens.

© imago/ZUMA Press

Vom Brexit zum möglichen „Katalexit“: Sehen Sie Parallelen zwischen der Entwicklung in Großbritannien und in Katalonien?

Ich hoffe, dass beide Seiten – die Regionalregierung in Barcelona und die Zentralregierung in Madrid – in den kommenden Wochen den Dialog suchen werden. Die Lösung muss darin liegen, dass ein autonomes Katalonien seine Zukunft in einem föderal organisierten Spanien sucht, welches wiederum Teil eines föderalen Europas ist. In Deutschland versteht man besser als anderswo, dass der Föderalismus eine sinnvolle Ordnung ist. Eine föderale Ordnung bietet die Grundlage dafür, dass unterschiedliche Sprachen und Kulturen zu ihrem Recht kommen.

Aber zeigen die Sezessionsbestrebungen in Katalonien nicht auch, dass in Europa der regionale Egoismus auf dem Vormarsch ist?
Wir dürfen uns nichts vormachen: Nationalismus und Populismus gibt es in Europa schon lange. Neu ist aber, dass es inzwischen eine Gegenbewegung in der Bevölkerung gibt. Immer mehr Menschen artikulieren ihre Sichtweise, dass man den Herausforderungen der Zukunft nicht begegnen kann, indem man überall in Europa neue Grenzzäune errichtet. Mit einem föderalen Europa verteidigen wir am besten unsere gemeinsame Interessen.

Sollte die EU vermitteln, um zu einer Lösung der spanischen Staatskrise beizutragen?
Man muss alles daransetzen, damit ein Dialog zwischen Madrid und Barcelona überhaupt zu Stande kommt. Noch wichtiger erscheint mir aber, dass die unterschiedlichen Parteien und Interessengruppen in Katalonien in ein echtes Gespräch miteinander eintreten. Es gibt nämlich auch eine Spaltung in der katalanischen Gesellschaft, und die muss zunächst einmal überwunden werden. Aber dabei muss die EU nicht als offizieller Vermittler auftreten.

Im Moment haben wieder Pläne für die langfristige Zukunft Europas Konjunktur. Frankreichs Präsident Macron schlägt vor, dass sich die Staaten der Euro-Zone enger zusammenschließen sollen. Was halten Sie davon?
Ich habe diese Idee schon vor Jahren vertreten. Wir können mit dieser EU mit ihren ganzen Opt-out-Regelungen und Opt-in-Verfahren nicht so weitermachen. Das funktioniert nicht. Es gibt rund ein Dutzend verschiedene Formationen innerhalb der Europäischen Union, bei denen nicht alle Staaten dabei sind – angefangen bei der Euro-Zone und dem Schengen-Raum. So geht es nicht weiter. Auch sollte man damit aufhören, Europa intergouvernemental nach dem schwerfälligen Prinzip der Einstimmigkeit sämtlicher Mitgliedstaaten regieren zu wollen. Schauen Sie in die USA: Dort konnte die Regierung sofort nach dem Beginn der Finanzkrise mit milliardenschweren Programmen zur Stabilisierung des Finanzsystems reagieren. Und was machen wir hier in Europa? Wir diskutieren immer noch über die Bankenunion, mit der wir uns in Zukunft gegen ähnliche Krisen wappnen wollen. Und wir reden immer noch darüber, wie die politische Steuerung der Euro-Zone aussehen soll. Jedesmal braucht man eine endlose Debatte zwischen 28 – oder demnächst 27 – Staats- und Regierungschefs in der EU, bevor sich etwas bewegt. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass Macron und EU-Kommissionspräsident Juncker Vorschläge zur Zukunft der Euro-Zone gemacht haben.

Was erwarten Sie in dieser Debatte von Kanzlerin Merkel?
Ich hoffe, dass sie so Stellung bezieht, wie es Deutschland über Jahrzehnte hinweg in der EU immer gemacht hat. Bis zur deutschen Wiedervereinigung war Deutschland aus gutem Grund stets die Lokomotive Europas. Danach hat sich das etwas geändert. Aber jetzt ist es wieder an der Zeit, dass Deutschland an seine historische Rolle aus der Nachkriegszeit anknüpft und die nötige Verantwortung in Europa übernimmt.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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