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Politik: Gymnasiale Oberstufe: Annette Schavan im Interview: "Die Oberstufenreform ist von gestern"

Annette Schavan (46) ist seit 1995 Kultusministerin in Baden-Württemberg. Vorher war sie sieben Jahre Leiterin des bischöflichen Hochbegabtenwerkes Cusanus.

Annette Schavan (46) ist seit 1995 Kultusministerin in Baden-Württemberg. Vorher war sie sieben Jahre Leiterin des bischöflichen Hochbegabtenwerkes Cusanus. Die Rheinländerin hat neben der Bildungspolitik die Frauenförderung zu ihrem zweiten großen Thema gemacht. Seit 1998 ist Schavan stellvertretende Parteivorsitzende der CDU, in diesem Jahr ist sie dazu noch Präsidentin der Kultusministerkonferenz der Länder.

Nach der Oberstufenreform von 1972 sollten alle Fächer prinzipiell gleichwertig sein und die Schüler sich ihr eigenes Profil für das künftige Studium oder die Berufswahl zusammenstellen. Ist diese Reform trotz aller Veränderungen noch zeitgemäß?

Nein, sie ist eine Reform des 20. Jahrhunderts, und sie muss jetzt auf den Prüfstand. Sie hat ein Maß an Spezialisierung gebracht, das zwar zu immer umfangreicheren Lehrplänen und immer mehr Schulfächern, aber nicht zu mehr Qualität geführt hat. Ich bin davon überzeugt, wir brauchen eine Neuordnung der Oberstufe, bei der Grundlagen gestärkt und Spezalisierungen abgebaut werden. Selbstverständlich eine Oberstufe, in der auch Schwerpunkte im sprachlichen Profil oder im naturwissenschaftlichen Profil oder auch in einem musischen Profil gesetzt werden können. Aber gleichwertig sind eben nicht alle Fächer. Es gibt herausragende Bereiche, dazu gehören etwa das Fach Deutsch und der Umgang mit Sprachen, dazu gehört die Mathematik. Deshalb ist eine entsprechende Änderung der Oberstufenreform in Baden-Württemberg auf den Weg gebracht worden und wird im nächsten Schuljahr greifen.

Heute gilt: Für die Allgemeinbildung reicht die Wahl von Fächern aus den Aufgabenfeldern und dazu noch die Verbindlichkeit von Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache bis zum Abitur. Genügt das?

Es ist nach 30 Jahren an der Zeit, eine wirkliche Vergewisserung über Bildungsinhalte in Gang zu setzen. Das ist auch eine Herausforderung an die Gesellschaft, die sich ja dieses öffentliche Bildungswesen leistet. Für mich gilt quer durch alle Fächer und Fachbereiche: Wir brauchen einen Weg hin zu mehr Konzentration, zur Stärkung von Orientierung, zur Stabilisierung eines Fundaments. Bildungsinhalte müssen schultauglich sein, wenn sie wirklich ein Fundament für lebensbegleitendes Lernen legen sollen. Da geht es dann nicht nur um Deutsch, Mathematik und die Fremdsprache, sondern es geht auch um die Stabilisierung der Naturwissenschaften. Die ist längst überfällig. Außerdem geht es um gute Angebote in der musisch-ästhetischen Erziehung. Das ist ein ganz wesentlicher Bereich für die Persönlichkeitsbildung.

Glauben Sie, dass es an der Zeit ist für einen neuen verbindlichen Kanon?

Das Wort Bildungskanon war ja zeitweilig fast unter Verbot gestellt. Aber heute brauchen wir mehr Verständigung über Bildungsinhalte, das führt zu einem Kanon.

Es gibt gute Gründe, warum wir sieben Fächer verbindlich bis zum Abitur machen sollten. Dazu gehören Deutsch, Mathematik, zwei Fremdsprachen, zwei Naturwissenschaften und Geschichte. Anders geht es wohl kaum, wenn man die Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre verkürzt und zugleich die Naturwissenschaften und Fremdsprachen aufwertet.

Die sieben Fächer werden in Baden-Württemberg in der Oberstufe künftig verbindlich sein. Sie gehören durchgängig bis zum Abitur belegt und zum Abitur gehören dann fünf Prüfungsfächer. Es ist ein Unding, wenn am Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland das Abitur mit nur einer Naturwissenschaft bestanden wird. Dann müssen wir uns nicht wundern, dass die Studierendenzahlen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften zurückgehen. Auf ein Drittel zwischenzeitlich, weil wenige den Mut haben, nach einer derartigen schulischen Vorbereitung in ein naturwissenschaftlich-technisches Studium zu gehen. Von daher brauchen wir mehr Verbindlichkeit im Blick auf das Fundament. Das verhindert nicht die Wahlmöglichkeiten.

Wenn der Frühstart in der ersten Fremdsprache auf die erste oder dritte Klassenstufe vorverlegt wird, dann sollte auch die zweite Fremdsprache früher beginnen: in der fünften statt der siebten Klasse. Sechs bis sieben Jahre werden für das gute Beherrschen einer Fremdsprache benötigt. Dann darf die zweite Fremdsprache bis zur 12. Klasse und damit bis zum Abitur nicht abgewählt werden.

Das sehe ich auch so. Vor allem sehe ich nach den jahrelangen Erfahrungen, die wir mit verschiedenen Modellen beim Fremdsprachenlernen gemacht haben, dass der Satz stimmt: Kinder lernen eine Fremdsprache umso leichter, je früher sie beginnen. Das heißt, wir werden in Baden-Württemberg mit dem frühen Lernen von Fremdsprachen ab Klasse eins auch eine Verstärkung des Umgangs mit Sprachen generell erreichen. Es gibt Synergieeffekte zwischen der Muttersprache und der Fremdsprache, und das heißt, es kann auch in den weiterführenden Schulen mit der zweiten Fremdsprache früher begonnen werden. Es wird ein Fremdsprachenkonzept sein, das die Mündlichkeit, den Umgang mit Sprache in den Vordergrund stellt. Wir werden sämtliche weiterführenden Schulen in ein solches Konzept aufnehmen. Denn Fremdsprache ist kein Monopol des Gymnasiums, sondern sie gehört zu den Kernkompetenzen im zusammenwachsenden Europa.

Wann verlegt Baden-Württemberg den Beginn der zweiten Fremdsprache auf die fünfte Klasse vor?

Wir sind jetzt in einer Entscheidungsphase. Der Beginn der zweiten Fremdsprache wird vorverlegt zu dem Schuljahr, in dem die Grundschüler, die in der ersten Klasse mit der Fremdsprache begonnen haben, in die fünfte Klasse kommen. Zum Jahr 2005 ist die Vorverlegung der zweiten Fremdsprache vorgesehen.

Bisher betreibt von den SPD-regierten Ländern Niedersachsen eine Reform der gymnasialen Oberstufe. Bildungsministerin Gabriele Behler aus Nordrhein-Westfalen, die ja sonst sehr radikal mit sozialdemokratischen Evergreens aufräumt, geht noch nicht an die Oberstufenreform heran. Kann das bedeuten, dass die Unions-regierten Länder in der Oberstufenreform den Vorreiter spielen?

Davon gehe ich aus. Das war bei der Weiterentwicklung der Oberstufe fast immer so. Ich wundere mich, warum manche so zögerlich sind, weil das Urteil über diese Form der Oberstufe allgemein gesprochen ist. Da darf man keine Zeit mehr ins Land gehen lassen. Es ist ja nicht einfach eine kosmetische Veränderung, sondern es ist die Überzeugung damit verbunden, dass es Kernbereiche gibt, die ich nicht ersetzen kann. Da kann es keine Unterscheidung von zwei ganz verschiedenen Niveaus geben.

Das heißt, die Unterscheidung zwischen Grund- und Leistungskursen ist nicht mehr zeitgemäß. Dass Mathematik und Naturwissenschaften gestärkt werden müssen, ergibt sich allein schon aus den für Deutschland so negativen Ergebnissen der internationalen TiMS-Studie.

Leistungskurse waren vielfach zu sehr spezialisiert. Das gilt ganz besonders für die Naturwissenschaften, in denen nur zehn Prozent der Oberstufenschüler einen Leistungskurs belegen. Damit sind für 90 Prozent der Gymnasiasten die Naturwissenschaften in die Ecke gedrängt - mit verheerenden Konsequenzen für die Wissenschaftsgesellschaft. Wir werden in wenigen Jahren erleben, dass Assistentenstellen in der Physik oder Chemie nicht mehr besetzt werden können. Da droht ein Generationenbruch in den Naturwissenschaften.

Sie sind Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Welche Chancen sehen Sie in der Kultusministerkonferenz für eine neue Diskussion über die gymnasiale Oberstufe? Ihr Kollege, der brandenburgische Schulminister Steffen Reiche (SPD), sucht länderübergreifend nach Verbündeten für seine Forderung nach einem neuen verbindlichen Kanon für den Schulunterricht.

Darüber freue ich mich sehr. Mein Eindruck ist, seit wir Öffnungsklauseln in der Kultusministerkonferenz auf Anregung von Baden-Württemberg beschlossen haben, seitdem gibt es mehr Interesse an neuen Ideen. Es war falsch, sich lange Zeit immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Kultusministerkonferenz zu einigen. Das hat uns viel Kritik eingebracht. Das hat vor allem den Eindruck erweckt, dass wir im Grunde mit der Modernisierung nicht rasch genug vorangehen. Das ist heute anders. Der Kollege Steffen Reiche aus Brandenburg wirbt, und wir sind in gutem Gespräch über die Fragen des schulischen Standards, des Kanons, für zentrale Abschlussprüfungen. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen.

Wie sieht es in der Oberstufenreform aus?

Bei der gymnasialen Oberstufe wird sowohl in Hessen als auch in Bayern über eine Reform nachgedacht. Ich glaube, dass über kurz oder lang auch in anderen Ländern Veränderungen anstehen. Die so genannte reformierte Oberstufe ist aus dem letzten Jahrhundert und passt nicht mehr in eine Bildungslandschaft, die die Konzentration bewirken muss.

Was ist Bildung?

Wenn Bildung wirklich dem Begriff gerecht werden soll, dann bedeutet das auch im 21. Jahrhundert die Begleitung einer jungen Persönlichkeit bei ihrer Entfaltung. Dann geht es um Wissen, Urteilskraft und Selbstständigkeit. Und dann gehören dazu Einsicht und Erfahrung. Diese Persönlichkeit soll eine innere Stabilität entwickeln können. Das erreichen wir nicht mit immer mehr Schulfächern, umfangreicheren Lehrplänen und immer mehr Spezialisierung. Es muss wieder der Grundsatz gelten: Aus einem gebildeten Menschen wird leicht ein Spezialist, umgekehrt ist es schwieriger.

Wissen veraltet schnell. Wie ist dem zu begegnen?

Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass sich Qualität über Quantität definiert. Qualität muss sich in Zeiten, in denen der Wissenszuwachs so enorm ist, sehr viel stärker aus dem Konsens über den Kanon, über das Fundament entwickeln. In den Kanon gehört auch Methodenkompetenz und eine Art Wissensmanagement. Ich glaube, dass wir heute an die gymnasiale Tradition anknüpfen müssen. Es geht nicht darum, irgendeine Oberstufe zu schaffen, sondern Besinnung auf die gymnasiale Tradition. Übrigens hatte schon Wilhelm Flitner 1961 beklagt, das Gymnasium sei in der Versuchung, immer mehr Fächer und immer mehr Gegenstände schon für mehr Qualität zu halten. Jetzt muss es in dieser Hinsicht einen Paradigmenwechsel geben.

Nach der Oberstufenreform von 1972 sollten alle F&

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