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Angela Merkel und Olaf Scholz bei der Übergabe der Ernennungsurkunden im März 2014.

© Stefani Loos, AFP

Halbzeitbilanz der Groko: Wie zukunftsfähig hat das schwarz-rote Bündnis das Land gemacht?

Zur Halbzeit der Legislaturperiode feiert sich das schwarz-rote Bündnis selber. Die Bürger jedoch zeigen bei den Wahlen ihren Verdruss.

Die Bundesregierung hat etwas getan, was Millionen Schüler auch gern tun würden: Sie hat sich selbst ihr Zeugnis geschrieben. Das fällt gut aus, Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und ihre Regierung wollen bis 2021 weitermachen. „Zusammen mit den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD haben wir viel erreicht und umgesetzt – aber es bleibt auch noch viel zu tun“, wird am Mittwoch in der Halbzeitbilanz betont. Sie umfasst 13 Kapitel, 88 Seiten mit 2463 Zeilen Text.

Das Zeugnis der Bürger sieht weniger gut aus. Die Wahlergebnisse zeigen erheblichen Verdruss – und der Niedergang führt bei CDU/CSU wie SPD zu verstärkten Gedankenspielen über einen Koalitionsbruch. Die entscheidenden Hürden werden die Parteitage von CDU (22./23. November) und SPD (6. bis 8. Dezember). Eine kritische Bestandsaufnahme.

Weichenstellung für die Zukunft

Seit Jahren hat die Koalition gegen den Vorwurf zu kämpfen, ihre Investitionen seien zu gering. Alles, was als Zukunftsthema durchgeht – ob nun von der Regierung dazu erkoren oder von Opposition und Verbänden –, gilt als unterfinanziert. Ob Straßen und Schienen, der digitale Umbau von Wirtschaft und Verwaltung, die Elektromobilität, der Wohnungsbau – angeblich fehlt es überall an Mitteln. Dabei betont Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mit einer gewissen Hartnäckigkeit, dass erstens die Regierung so viel investiere wie keine zuvor (was jedenfalls für die absolute Summe richtig ist). Dass aber Förderprogramme häufig gar nicht richtig genutzt würden, dass vielfach Mittel nicht abfließen. Neben dem jährlichen Haushaltsüberschuss seit 2014 sammelten sich so Milliarden an Rücklagen an, etwa in dem Nebenhaushalt namens Energie- und Klimafonds.

Für Forschung und Entwicklung, so steht es im Kabinettspapier, habe Schwarz-Rot 2018 und 2019 insgesamt fast 37 Milliarden Euro bereitgestellt. Um Künstliche Intelligenz voranzutreiben, sollen bis 2025 drei Milliarden Euro an Subventionen fließen. Das Sondervermögen „Digitale Infrastruktur“ wurde eingerichtet, um die Erlöse aus der Versteigerung der 5G-Frequenzen für die digitale Ausstattung von Schulen und den Gigabit-Netzausbau zu forcieren.

Zukunftsherausforderung Klimapolitik

Aber neben dem Geldausgeben, das den vielen Interessengruppen in der Summe ohnehin nie genügt, sieht sich die Koalition auch stets mit den Bitten konfrontiert, doch die Steuern zu senken. Dass sie das beim Solidaritätszuschlag nur für 90 Prozent der Zahler tut, hat das Unternehmerlager nicht ruhen lassen. Die Wirtschaft will eine Unternehmensteuerreform, will heißen: eine geringere Belastung der Gewinne von maximal 25 Prozent. Dass die Konjunktur schwächelt, wird als Anlass genommen, den Druck zu verstärken.

Zu den Zukunftsherausforderungen gehört vor allem die Klimapolitik. Zwar wurde ein großes Paket vorgelegt, doch fast alle Fachleute halten dennoch das Ziel von 55 Prozent weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 für nicht erreichbar. Das für 2020, 40 Prozent weniger, wird deutlich verfehlt. Im Verkehr sind die Emissionen sogar gestiegen. Nun soll unter anderem eine Kaufprämie von bis zu 6000 Euro für E-Autos einen riesigen Innovationsschub auslösen – doch die deutschen Autobauer drohen von ganz neuen Konkurrenten aus China und den USA, die gerade beim autonomen Fahren und der E-Mobilität viel weiter sind, überholt zu werden. Bahntickets werden im Fernverkehr ab 2020 um rund zehn Prozent billiger – aber gibt es für Millionen mehr an Passagieren auch genug Züge? 2020 fördert der Bund den öffentlichen Schienen- und Personenverkehr immerhin mit insgesamt rund 9,5 Milliarden Euro.

Dienst am Bürger

"Der schafft was weg" hat Angela Merkel im Sommer ihren Gesundheitsminister gelobt. Und Jens Spahn listet auch gern selber auf, was er und sein Ministerium so geleistet haben: 18 Gesetzentwürfe in 18 Monaten - das ist schwer rekordverdächtig. Tatsächlich sind es nach Tagesspiegel-Zählung sogar noch drei mehr. Sechs Großreformen sind bereits abgeschlossen. Die wohl gewichtigste, weil sie Arbeitnehmer und Rentner im Jahr um sieben Milliarden Euro entlastet, dürfte die Rückkehr zur paritätischen Finnzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sein.

Die Position von Kassenpatienten wurde durch Verbesserungen bei Terminvergabe und Versorgung gestärkt. Die Krankenkassen müssen bis 2021 endlich elektronische Patientenakten anbieten. Hebammen- und Psychotherapeuten werden besser ausgebildet, ihre Beruf dadurch aufgewertet. Die Kliniken bekommen - um gefährliche Sparmanövern auf dem Rücken der Patienten zu beenden - für Pflegekräfte künftig jede zusätzliche Stelle und jede Tarifsteigerung refinanziert. Und dass der Pflegebeitrag um einen halben Prozentpunkt stieg, um die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen besser versorgen zu können, merkte kaum einer, weil die Groko den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung im selben Umfang verringerte.

Finanzielle Überforderung von immer mehr Pflegebedürftigen

Allerdings ist trotz dieses Pensums auch noch vieles unerledigt. Ein Kraftakt könnte die Reform der Notfallversorgung werden, mit der die Notaufnahmen der Kliniken entlastet werden sollen. Hier droht nicht nicht Streit ums Geld, sondern auch Kompetenzgerangel - unter den Ärzten und mit den Ländern, die wegen der Rettungsdienste mit im Boot sind. Die Masern- Impfpflicht ist noch nicht in trockenen Tüchern. Für den Konkurrenzkampf der Apotheker mit Online-Versendern muss eine Lösung gefunden werden.

Dann ist da das Problem der finanziellen Überforderung von immer mehr Pflegebedürftigen, deren Eigenanteil durch gewollt höhere Pflegelöhne massiv steigen wird. Auch die hochethische Frage, ob man dem Problem fehlender Spenderorgane durch eine Regelung, die jeden nicht-widersprechenden Bürger zum Spender machen würde, begegnen soll. Und bei der Rente? Die Groko hat sich immerhin schon darauf festgelegt, dass das Rentenniveau bis 2025 nicht unter 48 sinkt und der Beitrag nicht über 20 Prozent steigt. Für die Jahre danach soll eine Kommission im Frühjahr Vorschläge präsentieren.

Bislang ungelöst ist der Koalitionsstreit um eine Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundrente. Die versprochene Abschaffung der Doppelverbeitragung von Betriebsrentnern befindet sich ebenfalls noch auf der Agenda, könnte aber an den hohen Kosten scheitern. Und der Plan, künftig auch alle Selbständigen zur Altersvorsorge zu verpflichten, liegt noch genauso in der Schublade wie die Ankündigung, den Bürgern für die private Altersvorsorge endlich ein attraktiveres und standardisiertes Riesterprodukt anzubieten.

Für viele wirkt gerade das Agieren in der Sozialpolitik wie das Prinzip Gießkanne, ein dauerndes Reparieren. Und eine große soziale Frage ist bisher kaum beantwortet: der Kampf gegen steigende Wohn- und Mietkosten. Den Ländern werden bis 2021 fünf Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um 100 000 neue Sozialwohnungen zu bauen. Doch eine Trendwende bei den Mieten in gefragten Gegenden wurde auch durch eine Verschärfung der Mietpreisbremse nicht erreicht, weshalb Berlin zum drastischen Mittel einer auf fünf Jahre angelegten Deckelung greift.

Eines der teuersten Groko-Projekte entpuppt sich als Renner, aber die Wirkung ist umstritten, zumal alle Steuerzahler das Ganze bezahlen. Bis Ende September sind 147 000 Anträge auf Baukindergeld mit einem Volumen von fast 3,1 Milliarden Euro bei der KfW eingegangen. Das Baukindergeld erreiche die politisch gewünschte Zielgruppe: junge Familien, niedrige bis mittlere Haushaltseinkommen, wird betont. Aber in 75 Prozent der Fälle werden Bestandsimmobilien gekauft – Kritiker betonen, dass dem Wohnungsmietmarkt dadurch noch mehr Wohnungen durch Umwandlungen in Eigentum entzogen werden könnten, was wiederum die Mietpreise steigen lässt.

Rolle in der Welt

„Ein neuer Aufbruch für Europa“ – so lautet das erste Kapitel des Koalitionsvertrages. Damit wollte die Bundesregierung signalisieren, dass sie neue Initiativen für die EU als Priorität betrachtet. Doch große europapolitische Initiativen blieben in Berlin in den zurückliegenden eineinhalb Jahren Fehlanzeige. Wenn man die Bilanz der großen Koalition zur Europapolitik liest, dann kann man den Eindruck haben, dass sich die Bundesregierung zum Teil mit fremden Federn schmückt. So wird betont, dass ab 2021 ein Budget für die Euro-Zone zur Verfügung stehen wird, mit dem Investitionen in den Mitgliedstaaten unterstützt werden sollen.

Allerdings war es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, von dem die Initiative für das neue Budget ausging. Derweil lag es auch an der Bremserrolle Deutschlands, der Niederlande und anderer EU-Mitglieder, dass der neue Geldtopf viel kleiner ist als ursprünglich von Macron erhofft: Hatte der französische Präsident zunächst von einem Betrag in dreistelliger Milliardenhöhe geträumt, so wird das Budget nun voraussichtlich 17 Milliarden Euro umfassen – verteilt auf sieben Jahre. Ums Geld dreht sich auch der EU-weite Streit um die kommende Haushaltsperiode zwischen 2021 und 2027. Finanzminister Scholz zeigt sich bislang wenig spendierfreudig und beharrt darauf, dass der europäische Haushalt nicht über ein Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung wachsen soll. Zur größten europapolitischen Leistung der Bundesregierung zählt indes die Tatsache, dass sich die verbleibenden 27 EU-Staaten bei den Brexit-Verhandlungen nicht zerlegt haben, sondern geeint auftraten.

Schlechtes Zeugnis für die Außenpolitik

Der Streit innerhalb der Koalition über den Vorschlag von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) für Schutzzonen in Nordsyrien stellt der Außenpolitik der großen Koalition ausgerechnet zur Halbzeitbilanz kein gutes Zeugnis aus. Außenminister Heiko Maas (SPD) kritisierte die Kollegin ausgerechnet beim Besuch in Ankara, also aus dem Ausland. Und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt den Streit weiterschwelen, statt ihn zu beenden. Dabei ist der Vorwurf von Kramp-Karrenbauer nicht ganz falsch, der heißt: Wir könnten als Deutsche oder Europäer auch im Syrien-Konflikt mehr machen, nutzen aber unsere Möglichkeiten nicht.

Wer die Außenpolitik der zwei Jahre seit der Bildung der Regierung 2017 bilanziert, sieht viel Kontinuität, aber wenig neue, entscheidende Impulse. Der Bundesregierung fällt es weiter schwer, eine Antwort auf die zerstörerische Politik der USA unter Donald Trump zu finden - sei es in Handelsfragen, im Nahen und Mittleren Osten oder bei der Rüstungskontrolle. Berlin versucht nach wie vor, den Atomvertrag mit dem Iran zu retten, die Aussichten sind aber düster. Im Ukraine-Konflikt setzen Kanzleramt und Auswärtiges Amt weiter auf Vermittlung, jeder Fortschritte aber ist fragil.

Außenminister Maas muss zudem auf seine Partei Rücksicht nehmen. Die SPD bekennt sich zwar zum Ziel strategischer europäischer Autonomie, will aber etwa bei den Rüstungsausgaben die notwendigen Schlussfolgerungen nicht ziehen. Zusammen mit Frankreich hat Maas die Allianz für den Multilateralismus ins Leben gerufen, in der Länder zusammenarbeiten, die den Erhalt einer regelorientierten Weltordnung für wichtig halten. Die lange vorbereitete Bewerbung um einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat er zum Erfolg geführt. Im Syrien-Konflikt leistet Berlin Vorarbeiten und Hilfe bei der Vorbereitung einer politischen Lösung für Syrien, auch wenn deren Erfolgsaussichten immer noch gering scheinen. Den neuen, kritischen Töne des damaligen Neulings im Auswärtigen Amt gegenüber Putins Russland ist bislang keine erkennbare Strategie gefolgt.

Schutz und Halt

Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer rühmt sich gern damit, wie viel er in seiner Amtszeit auf den Weg gebracht hat. Tatsächlich fallen gleich mehrere Großthemen in den Bereich des Bayers: darunter innere Sicherheit sowie Migration und Integration.

Während er 2018 noch wegen Zurückweisungen an der Grenze die Groko an den Rand des Zusammenbruchs brachte, zeigte sich Seehofer in diesem Jahr erstaunlich offen für die Aufnahme von Bootsflüchtlingen aus dem Mittelmeer. Im August 2018 trat der Familiennachzug in Kraft, wonach monatlich 1000 Angehörige von Flüchtlingen nach Deutschland kommen dürfen, die subsidiären Schutz genießen – dabei handelt es sich meist um Bürgerkriegsflüchtlinge. Im Juni 2019 wurde ein Fachkräftezuwanderungsgesetz beschlossen, das etwa die Arbeitsplatzsuche von ausländischen Fachkräften mit Berufsabschluss möglich macht.

Im August ist zudem das geordnete Rückkehrgesetz in Kraft getreten. Es soll helfen, Ausreisepflichten besser durchzusetzen. Einige SPD-Migrationspolitiker kritisieren allerdings über den Koalitionsvertrag hinausgehende Restriktionen – etwa, dass ausreisepflichtige Ausländer zusammen mit Kriminellen in gewöhnlichen Gefängnissen inhaftiert werden können.

Auch in Sachen Sicherheit gibt sich die Groko geschäftig, verabschiedete etwa einen „Pakt für den Rechtsstaat“ und ein „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität“. Die Anzahl der Stellen bei Bundespolizei, Zoll, Generalbundesanwaltschaft und Bundesgerichtshof soll erhöht werden. Zudem will der Bund die Länder bei der Einstellung von neuen Richtern und Staatsanwälten unterstützen. Allerdings fehlt es an Bewerbern – beispielsweise bei der Bundespolizei. Noch nicht umgesetzt ist ein Gesetz zur Ausweitung der Befugnisse des Verfassungsschutzes, an dem es schon im Vorfeld aus der Opposition und zum Teil aus der SPD scharfe Kritik gab. Das durchzuboxen dürfte eine der großen Herausforderungen für Seehofer in der zweiten Hälfte der Legislatur werden.

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