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Hatice Akyün besucht regelmäßig das Holocaust-Mahnmal mit ihrer Tochter und putzt gemeinsam Stolpersteine, damit die Erinnerung nicht verblasst.

© Meiko Herrmann

Hatice Akyün zum Holocaust-Gedenken: Das „Nie wieder“ nach Auschwitz betrifft auch mich

Früher dachte ich, der Nazi-Terror sei nicht meine Geschichte. Ich bin hier ja nicht geboren. Heute sehe ich das ganz anders. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Hatice Akyün

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Rede bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz etwas, das mich zutiefst bewegt und gleichzeitig ermutigt hat. Er sagte: „Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“ Er macht das Geschehene nicht zur Vergangenheit, sondern nimmt uns in die Verantwortung.

Ich sage ganz bewusst „uns“, auch wenn ich oft höre, dass ich ja als Türkeistämmige keine Tätervorfahren hätte, das Dritte Reich nicht meine Geschichte sei. Aber ich bin Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, ich besitze die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. Das Gesetz weiß das.

Und zum Glück hatte ich in der Schule eine Geschichtslehrerin, die mit uns den Holocaust so intensiv, so erbarmungslos durchgenommen hat, dass ihr Unterricht bis heute bei mir nachwirkt. So sehr, dass ich es meiner Tochter weitergebe, indem wir regelmäßig das Holocaust-Mahnmal besuchen und gemeinsam Stolpersteine putzen, damit die Erinnerung nicht verblasst.

Nicht Deutsche, nicht Türkin, sondern Mensch

Als Jugendliche hatte ich mich der Tatsache verschlossen, dass ich auch Teil der geschichtlichen Verantwortung dieses Landes bin. Ich bin ja nicht hier geboren, dachte ich, und das ist alles weit vor meiner Geburt passiert. Mit dieser Einstellung unterschied ich mich nicht sehr von meinen Freunden, die aus Bäuchen deutscher Mütter waren. Das ist falsch, wie ich heute weiß.

Ich empfinde großen Respekt dafür, wie mein Land Verantwortung für seine dunkelste Zeit übernimmt, in der mit kruden Verbiegungen irgendeine überlegene Rasse definiert wurde, die als Rechtfertigung für die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ins Feld geführt wurde.

Das Glück, Überlebende anhören zu können

Erinnerung stirbt millimeterweise, deshalb fühle auch ich mich verantwortlich, dass ein „Nie wieder“ kein Lippenbekenntnis bleibt. Nicht weil ich Deutsche bin, nicht weil ich Türkin bin, nicht weil ich Muslima bin, sondern weil ich Mensch bin.

Unsere Generation hat das große Glück, noch mit den Menschen reden zu können, die diese Jahre erlebt und überlebt haben. Wir sollten in Zeiten, in denen der Holocaust als „Vogelschiss“ verharmlost wird, den Überlebenden den Raum geben, ihnen zuhören, von ihnen lernen. Nicht nur, was passiert ist, sondern auch, wie es dazu kommen konnte. Ich glaube, wir würden schmerzlich erkennen, dass es Parallelen zu heute gibt. Wenn auf der einen Seite Grenzen des Sagbaren überschritten werden, dürfen wir das auf der anderen Seite nicht mit Kopfschütteln abtun.

Ort des Grauens: das Vernichtungslager Auschwitz im Januar 2020.
Ort des Grauens: das Vernichtungslager Auschwitz im Januar 2020.

© Kay Nietfeld/dpa

Manchmal verzweifele ich daran, dass Geschichte und Aufklärung keine Wirkung zeigen, wenn Geschichtsvergessene zu Tausenden zur Wahrung des Abendlandes auf die Straße gehen, wenn sich Hass und Hetze immer stärker ausbreiten. Diese Mischung aus „besorgten Bürgern“ und rechtsradikalem Gedankengut ist beängstigend.

Durch den Einzug einer rechten Partei in den Bundestag müssen wir erkennen, dass es Bürger in unserem aufgeklärten und demokratischen Land gibt, denen es zuwider ist, Menschen unabhängig von Herkunft, Religion, körperlichen Verfassung, Geschlecht und sexueller Orientierung als gleichberechtigte Mitmenschen anzuerkennen. Und es macht deutlich, dass wir die Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts nicht als selbstverständlich nehmen dürfen.

Ob wir aus unserer Geschichte lernen, liegt einzig und allein an uns. Oder wie es Willy Brandt sagte: „Die Geschichte kennt kein letztes Wort.“

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