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Politik: Heimkehr in die Geschichte

Von Hermann Rudolph

Weshalb jetzt? Und zu welchem Zweck? Die Ausstellung zur Vertreibung im Deutschen Historischen Museum ist noch nicht zu Ende, da wird, heute Abend, gegenüber im Kronprinzenpalais die nächste eröffnet, die auch noch – initiiert vom Bund der Vertriebenen – so etwas wie ein Gegenprogramm anbietet. Also verlangt die donauschwäbische Tracht nach unserer Aufmerksamkeit, der Schlüssel der Danziger Marienkirche, auch die polnische Fahne aus dem sibirischen Lager: ein Kaleidoskop harmloser-anrührender Geschichtssplitter, aber es führt auf unsicheres, traumatisiertes Gelände. Die heftigen Kontroversen, die die Forderung nach einem Zentrum gegen Vertreibungen ausgelöst hat, stehen ja noch – obwohl verblasst – im Raum. Zudem: Wer von Vertreibung spricht, der kommt an der Frage nicht vorbei, was uns denn heute Heimat sei – und konfrontiert uns mit einem Begriff, der schwer auf aufgeklärten Gemütern lastet.

Aber es ist nie leicht, von einem Thema zu sprechen, das viele lange links – oder besser: rechts – liegen gelassen haben. Stand nicht schon die Erwähnung der Vertreibung unter Revisionismusverdacht? Oder wurde von den Vertriebenen selbst lobbyistisch benutzt, um die Interessen der eigenen Gruppe zu vertreten? Dabei zeigt das Thema doch vor allem eins an: einen kapitalen Geschichtsverlust. Bei der Vergangenheitsbewältigung, die die Deutschen betrieben haben – angreifbar als Begriff, hoch anzuerkennen in der Sache –, blieb die Vertreibung ein Randphänomen. Gewiss, die Bilder von den Wagen über das vereiste Haff, die Berichte über den Brünner Todesmarsch sind im kollektiven Gedächtnis angekommen, nicht jedoch die Einsicht, dass die Vertreibung ein großes Thema der deutschen Geschichte darstellt. Und erst recht nicht die Erkenntnis des europäischen Phänomens, zu dem sie gehört – die gewaltige Zwangswanderung in der Ära des Weltkriegs, die 40 bis 60 Millionen Menschen die Heimat kostete.

Vielleicht tun wir uns damit so schwer, weil die Deutschen dazu neigen, Heimat zugleich emphatisch zu denken und zu problematisieren. Mit der Formel „Zwiespältige Zufluchten“ etikettierten einmal zwei Autoren ihren Versuch, den Wegen und Irrwegen des Heimatgefühls in Deutschland nachzugehen. Das ist gut zwanzig Jahre her, und seither hat sich auch das Verhältnis zu dieser irritierenden Größe im deutschen Geistes- und Gefühlsleben geändert. Das Zeitalter von Globalisierung und EU hat ihr viel von dem Boden, dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem Territorium, entzogen, in der sie begründet ist. Doch zugleich gibt es eine Suche nach Identität, nach Verwurzelung, nach Rückhalt, die ein neuesBedürfnis nach Heimat anzeigt.

Vielleicht sind es vergleichbare Wandlungen in den Tiefenströmungen des Zeitbewusstseins, die die Sicht auf die Vertreibung verändert haben. Die Bereitschaft, sich der eigenen Geschichte zu stellen, gehört ja unübersehbar zum Zugewinn der letzten Jahre. Damit ist auch der Verlust des deutschen Ostens in den Wahrnehmungshorizont von immer mehr Zeitgenossen getreten. Zugleich hat der Gang der Dinge, der Zusammenbruch des damaligen Ostblocks und die Osterweiterung, die Welt zwischen Brünn, Breslau und Danzig in eine neue Perspektive gerückt. Die Geschichte der Selbst-Befreiung der Polen, Tschechen und alle der anderen mitteleuropäischen Völker hat auch für uns gearbeitet, weil sie uns das größere, ungeteilte Europa geöffnet hat. Es hat die skandalöse Schlesien-ist-unser-Manier, mit der die Vertriebenen einst auf das Recht auf Heimat pochten, gegenüber den gemeinsamen Aufgaben obsolet werden lassen.

Immer öfter, immer auffälliger nimmt man vor allem in Polen und Tschechien die Versuche wahr, das Erbe der deutschen Vergangenheit nicht mehr auszuschlagen oder zu verdrängen, sondern sich zu ihm in ein neues, Anteil nehmendes Verhältnis zu setzen,es sich anzueignen. Die endliche Aufnahme der Vertreibung in unser Geschichtsbild wäre nichts anderes: die Annahme unserer ganzen Vergangenheit. Eine Heimkehr.

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