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Politik: Hinter den Linden: Wieder am Fluss

Dass die Berliner gerne zum Angeben neigten, ist ein auch durch pausenlose Dementis nicht aus der Welt zu schaffendes Vorurteil. Die etwas wirren Zeiten haben ihnen aber die Superlative gehörig ausgetrieben.

Dass die Berliner gerne zum Angeben neigten, ist ein auch durch pausenlose Dementis nicht aus der Welt zu schaffendes Vorurteil. Die etwas wirren Zeiten haben ihnen aber die Superlative gehörig ausgetrieben. Den Ruf, in puncto flotte Sprüche die Texaner der alten Welt zu sein, haben sie längst verloren. Und auf die Idee, die Stadt als das "Venedig des Nordens" zu bezeichnen, wären sie ohnedies nie gekommen. Erstens, weil dieser Ehrentitel schon seit zweihundert Jahren von St. Petersburg getragen wird. Zweitens, weil die Berliner an ihre wunderschönen Flussläufe seit Beginn der Industrialisierung nicht etwa Wohnungen, sondern Fabriken bauten. Das war praktisch, aber ästhetisch nicht voll befriedigend. Nach der Wende hat sich das geändert und langsam können die Berliner schon ein wenig stolz darauf sein, was sich mit finanzieller Hilfe des Bundes an den städtischen Gestaden getan hat. Inzwischen haben sich an den Ufern der Spree nicht nur das Parlament und Ministerien, sondern auch der Bundeskanzler häuslich niedergelassen. Als krönenden Abschluss gab es gestern die Schlüsselübergabe für das Paul-Löbe-Haus, zwischen Spree und Reichstag gelegen, ein atemberaubendes Gebäude, dessen Flächen zu 80 Prozent aus Glas bestehen. Auf geradezu rührende Weise zeigt sich da nun eine Seelenverwandtschaft mit Bonn. Denn hier wie dort fanden und finden sich das Staatsoberhaupt, das Parlament, der Kanzler und diverse Minister nacheinander am jeweils die Stadt dominierenden Fluss aufgereiht. Zwar ist der Rhein viel mächtiger als die Spree, dafür ist hier alles etwas näher dran. Kleinteilige Idylle - wer hätte das von Berlin jemals gedacht!

Gerd Appenzeller

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