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Hintergrund: "Linksruck" in Lateinamerika

Der Sieg der Sozialistin Michelle Bachelet bei den Präsidentenwahlen in Chile verstärkt den "Linksruck" in Lateinamerika.

Santiago - Wie der Venezolaner Hugo Chávez, der Brasilianer Luiz Lula da Silva, der Uruguayer Tabaré Vásquez, der Argentinier Néstor Kirchner oder der Bolivianer Evo Morales hat auch die frühere Kinderärztin sich vor allem die Ausmerzung der Nöte der Armen, der Minderheiten und Benachteiligten auf die Fahnen geschrieben. «In Lateinamerika findet ein Aufstand gegen die Not statt», sagt der frühere spanische Ministerpräsident Felipe González, der Bachelet in Santiago unterstützte. Die Politik Washingtons werde so zurückgewiesen.

Anders als die meisten ihrer ideologischen Freunde ist Bachelet aber keine Populistin. Sie strebt weder eine politische noch wirtschaftliche, allenfalls eine kulturelle Revolution an. Deshalb geht sie aber nicht auf Distanz zu den künftigen Amtskollegen - ganz im Gegenteil. «Ich bin gegen diese Dämonisierung der Entwicklung in Lateinamerika. Es gibt keine Achse des Bösen hier». Die Drohung komme nicht von diesen demokratisch gewählten Politikern, so Bachelet, «sondern von der Armut, der mangelhaften Integration der Ureinwohner, von Drogenhandel und Völkerwanderungen», versichert sie.

Der chilenische Politikwissenschaftler Guillermo Holzman glaubt, dass Bachelet auch als bekannte «Linksaußen» der Mitte-Links- Regierungskoalition das erfolgreiche neoliberale Modell ihres Vorgängers Ricardo Lagos kaum antasten wird. In den vergangenen Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt um rund sechs Prozent jährlich, was nur wenige Länder weltweit schafften. Die Arbeitslosigkeit blieb unter zehn Prozent. 2005 zog Chile sieben Milliarden US-Dollar an ausländischen Investitionen an. Viel für ein Land mit 15 Millionen Einwohnern. Und mit 4910 Dollar (4040 Euro) ist das Prokopf-Einkommen zum Beispiel mehr als 60 Prozent höher als beim regionalen Industriegiganten Brasilien.

Trotz aller Erfolge leben aber noch immer 18 Prozent der Chilenen unterhalb der Armutsgrenze. Die 20 Prozent der reichsten Chilenen kommen auf 56 Prozent aller Einnahmen und Vermögen, während die 20 Prozent der Ärmsten mit 4 Prozent auskommen müssen. Die Projekte für ein Mindesteinkommen von Lagos waren schüchtern. Bachelet, die «linkeste Präsidentin seit dem 1973 von Augusto Pinochet gestürzten Salvador Allende, wird sie sicher erweitern. «Mit Bachelet hat zwar die Kandidatin der Regierungskoalition gewonnen. Mit ihr beginnt aber eine neue Etappe mit mehr sozialer Gerechtigkeit, mit mehr Rechten für Arbeiter, einer Rentenreform und mehr und besserer Bildung für alle», sagt der Präsident der Sozialistischen Partei, Ricardo Nuñez.

Für viele Analysten ist Bachelet mit ihrer traurigen Familien- Geschichte nicht nur eine Art «Symbolfigur» für die Überwindung des Diktaturdramas, sondern auch für die Liberalisierung, die das noch immer von patriarchalischen Strukturen und vom Machismo geprägte, tief katholische und erzkonservative Chile durchmacht. Scheidung und Werbekampagnen für Kondome gibt es erst seit 2004. Neu sind auch die vor wenigen Jahren undenkbaren so genannten «Cafés mit Beinen», wo Kellnerinnen in extrem kurzen Miniröcken servieren. «Wir machen eine kulturelle Revolution durch», so der Universitätsprofessor Roberto Méndez. Vor zehn Jahren hätte die zweifach geschiedene Agnostikerin Bachelet eine Präsidentenwahl nie gewonnen, versichert er.

Bachelet wird durch die Mehrheit ihres Bündnisses in beiden Kammern des Parlaments eine Machtfülle haben, die kein anderer Präsident im nachautoritären Chile hatte. Leicht wird sie es in ihrem Land deshalb aber nicht haben. «Wir werden ein zweites Spanien, wo jetzt sogar Homosexuelle heiraten dürfen», klagte nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses die Grundschullehrerin Inés mit Tränen in den Augen im vornehmen Viertel Las Condes. Gott wolle so etwas nicht. Taxifahrer Alvaro, auch konservativ-katholisch, ist sicher: «Eher endet die (Bachelet) wie Salvador Allende, merkt euch das». (tso/dpa)

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