zum Hauptinhalt

Politik: HINTERM DAMM

Neues aus Heiligendamm

Frau W. versteht die Welt nicht mehr. Jedes Jahr sind die Stammgäste gekommen in ihr kleines lila angemaltes Häuschen in Kühlungsborn, sind die friesenblaue Treppe hochgestiegen in den ersten Stock und haben sich für ein paar Wochen häuslich eingerichtet in den niedrigen Ferienstübchen, die jedes in einer anderen Farbe angestrichen sind, hier ein bisschen Blau, da ein wenig Rot, dazwischen Gelbes und Grünes. Dieses Jahr sind die Störche und die Stare früher eingetroffen als sonst, dafür bleiben die Stammgäste aus. Wollen ein paar Tage später kommen, haben sie ausrichten lassen.

Vielleicht haben sie ängstlichen Respekt gehabt vor dem zu erwartenden Gipfel-Theater?

Frau W. wiegt skeptisch den Kopf. Das kann sie sich nicht vorstellen, sagt sie, eigentlich. Als ob das ein Grund wäre! Die Sonne scheint, die Ostsee plätschert, man kann spazieren gehen und Rad fahren wie immer. Nun gut, jedes zweite Auto auf den Straßen hat ein Blaulicht auf dem Dach, manchmal surrt ein Hubschrauber wie eine dicke Hornisse hoch am Himmel. Aber sonst?

Die Sommerfrischler älteren Semesters, die trotzdem da sind, spazieren durch das Städtchen zum Strand und bewundern als zusätzliche Attraktion das Aus und Ein beim Medienzentrum. Abends gucken sie sich im Fernsehen Bilder an von Demonstranten mit Megafonen, von dem einen Wasserwerfer, der hier irgendwo um die Ecke einmal kurz in ein Feld gespritzt hat, und von den Rennbooten der Polizei, die sich draußen auf dem sonnigen Meer ein grazil geschwungenes Katz-und-Maus-Spiel mit ein paar Greenpeacern im Schlauchboot liefern. Danach rufen sie zu Hause bei den Kindern an und lassen sich bewundern für ihren Heldenmut in der Wahl des Urlaubsorts und versichern, dass sie wohlauf sind.

Zwischen Kühlungsborn und Heiligendamm, wo die Dampfbahn Molli Hundertschaften Journalisten hin- und herkutschiert, steht ein Reh im Kornfeld. Das Reh betrachtet den Zug, und die Insassen zeigen sich gegenseitig ganz aufgeregt das Reh. Guckt mal, rufen sie, ein Reh. Die Hundertschaften guckten. Das Reh guckt auch. Es sieht genau so aus, als ob es lacht. bib

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false