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Heinrich August Winkler (74) ist Autor mehrerer Standardwerke zur deutschen Geschichte und emeritierter Professor der Humboldt-Universität. Der Historiker, der am dritten Band seiner "Geschichte des Westens" schreibt, ist seit 1962 Mitglied der SPD.

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Historiker Heinrich A. Winkler: 150 Jahre SPD: "Erst kommt das Land"

Der Historiker Heinrich August Winkler spricht in einem Interview mit dem Tagesspiegel über Kontinuitäten in der Geschichte, historische Verdienste der Sozialdemokratie und Lehren aus Fehlentwicklungen.

Von Hans Monath

Herr Professor Winkler, welche Idee sorgt dafür, dass eine Partei 150 Jahre lang zusammenhält?

Es ist das Versprechen, soziale Gerechtigkeit mit Freiheit zu verbinden. Und es ist die Bereitschaft, für dieses Ziel zu kämpfen, auch wenn man politische Mehrheiten gegen sich hat. Diese Erfahrung hat die SPD im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gemacht, trotzdem hat sie an ihren Idealen festgehalten – bis heute.

Die SPD ist stolz darauf, in den entscheidenden Momenten der deutschen Geschichte auf der richtigen Seite gestanden zu haben – zu Recht?

Es stimmt zumindest, dass die SPD sich stets unbeugsam zur Demokratie bekannt hat. Die Sozialdemokraten waren die Staatsgründungspartei der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, und deren Staatspartei schlechthin. Im Reichstag war die SPD im März 1933 dann die einzige Partei, die sich dem Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers entgegenstellte. Aber natürlich hat die SPD wie jede Partei auch Anlass, selbstkritisch mit ihrer Geschichte umzugehen.

Warum fiel die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien der SPD am Ende des Ersten Weltkrieges schwer?

Weil sie in der Frühphase ihrer Geschichte auf proletarischen Klassenkampf setzte und eine solche Zusammenarbeit ausgeschlossen hatte. Ein großes Verdienst der SPD in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Abkehr von jener dogmatischen Parole, auf die sich die Sozialistische Internationale im Jahre 1900 festgelegt hatte, nämlich keine Koalitionen mit bürgerlichen Parteien einzugehen. Ohne Abkehr von diesem Dogma hätte es die Weimarer Republik nie gegeben.

In den 150 Jahren ihrer Geschichte hat die SPD nur 30 Jahre lang regiert. War die Beschwörung einer besseren Wirklichkeit aus der Opposition heraus für die Sozialdemokraten oft attraktiver als die Kärrnerarbeit in der Regierung?

Die Beschreibung ist nicht rundum falsch. Auch in der Weimarer Republik erschwerte der Wunsch nach einer möglichst vollständigen Umsetzung des eigenen Parteiprogramms der SPD häufig die Bildung von Koalitionen mit bürgerlichen Parteien. Aber im Kaiserreich hatte keine deutsche Partei gelernt, Kompromisse einzugehen.

Wirkte die Verlockung der Opposition für die SPD auch noch nach 1945?

In der Geschichte der Bundesrepublik war die Auseinandersetzung zwischen der pragmatischen Richtung der SPD, die im Kompromiss eine demokratische Notwendigkeit sieht, und den Verfechtern reiner sozialdemokratischer Prinzipien besonders wirksam in der Endphase der sozialliberalen Koalition 1982. Die Regierung Helmut Schmidts scheiterte allerdings nicht nur an Widerständen innerhalb der SPD, sondern auch an der FDP, die zu einem neuen Koalitionspartner strebte.

Prägt diese Spannung die SPD noch heute?

Diese Spannung wird immer da sein. Aber es gibt in der SPD Lernprozesse, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Eine der großen Zäsuren war die Entscheidung, mit dem Godesberger Programm von 1959 ideologischen Ballast abzuschütteln und sich von einer Klassenpartei in eine Volkspartei der linken Mitte zu wandeln.

Hat die SPD Deutschland auch in den langen Phasen verändert, in denen sie in der Opposition war?

Die Existenz der SPD war für viele ihrer Konkurrenten immer auch ein Ansporn zu sozialpolitischer Aktivität. Schon die Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre wären ohne die Wahlerfolge der SPD nicht zustande gekommen. Bismarck hatte die Parole ausgegeben: Der Sozialismus paukt sich durch. Er meinte, vernünftige sozialdemokratische Forderungen müsse der Staat durchsetzen. Natürlich wollte er damit der SPD das Wasser abgraben, was ihm trotz Sozialistengesetz nicht gelungen ist. In der Weimarer Republik konnte Gustav Stresemann seine Außenpolitik der Verständigung nur mit der SPD verwirklichen, weil ihm seine eigene Partei, die rechtsliberale Deutsche Volkspartei, weitgehend nicht folgte. Erst die Unterstützung der SPD erlaubte ihm, den Ausgleich mit Frankreich voranzutreiben.

Gibt es eine Linie von der Unterstützung Stresemanns bis hin zum Ja der SPD für Merkels Rettungspolitik für den Euro?

Die SPD hat sich in ihrem Handeln immer wieder an dem Grundsatz orientiert, wonach erst das Land kommt und dann die Partei. Ihre heutige Haltung zu Europa ist in der Tat ein Beispiel für Kontinuität seit den Tagen des Ersten Weltkrieges, als die SPD sich für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen einsetzte.

Welche Leistung der SPD in der Regierung hat Deutschland nach 1945 besonders geprägt?

Ich denke an die Regierung Willy Brandts, an den gesellschaftspolitischen Aufbruch und an die Ostpolitik. Sie hat der Bundesrepublik Deutschland zu einem sehr viel höheren Maß an politischer Handlungsfähigkeit verholfen und zugleich im Verhältnis der beiden deutschen Staaten menschliche Erleichterungen ermöglicht, die dazu beigetragen haben, dass trotz staatlicher Trennung die Idee der Nation erhalten blieb. Die Ostpolitik war daher ein entscheidender Beitrag zur Wiedervereinigung.

Darf die SPD darauf stolz sein?

Nicht nur. In der sogenannten zweiten Phase der Ostpolitik in den 80er Jahren trat das Ziel des Wandels hinter dem Ziel der Stabilität so weit zurück, dass manchen führenden Sozialdemokraten das Verständnis für die Freiheitsbewegungen in den Ostblockstaaten fehlte. Diese konnten sich auf die Schlussakte von Helsinki von 1975 mit ihren Menschenrechtsversprechungen berufen. Es war auch ein Erfolg der ersten Phase der Ostpolitik, dass Organisationen wie die polnische Solidarnosc ihre historische Wirkung entfalten konnten. Auch für die Außenpolitik der Gegenwart gilt: Stabilität ist wichtig, aber kein Wert an sich. Man darf sie nicht verabsolutieren und darüber Freiheitsbemühungen in Diktaturen oder Halbdiktaturen missachten.

Was sind sozialdemokratische Leistungen in jüngster Zeit, im 21. Jahrhundert?

Dass Deutschland heute wirtschaftlich so viel besser dasteht als die Mehrzahl der EU-Partner, ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Daran ändern auch die zu korrigierenden Mängel dieses Reformwerks nichts. Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist und Deutschland heute weitaus wettbewerbsfähiger ist als vor 2003.

Ende des 20. Jahrhunderts verkündete Ralf Dahrendorf das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters wegen Aufgabenerfüllung. Hatte er Recht?

Nein. Dahrendorf hätte Recht, wenn sich die sozialdemokratischen Parteien nur auf ihren Verdiensten ausruhen würden. Wenn sie sich aber immer wieder prüfen und neue Antworten auf die Frage geben, was soziale Gerechtigkeit heute heißt, haben sie die Chance, sich in einer veränderten Parteienlandschaft zu behaupten. Sie müssen aus ihren Leistungen ebenso lernen wie aus dem, was sie falsch gemacht haben. Davon hängt ab, ob sozialdemokratische Parteien eine Zukunft haben.

Das Gespräch führte Hans Monath

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