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Auf Distanz: Polen und Deutschland finden in Politik und Coronakrise wenig Gemeinsamkeit: Proteste gegen geschlossene Grenzübergänge im Mai.

© Stefan Sauer/picture alliance/dpa

Historischer Affront unter EU- und Nato-Partnern: Polen lässt deutschen Botschafter nicht ins Land

Warschau verweigert das „Agrément“ ohne Begründung. Medien behaupten, der Vater des Diplomaten sei „Hitlers Adjutant“ gewesen und er ein „Spion“. Eine Analyse.

Wer ist hier der Provokateur, Deutschland oder Polen? Das ist wie so oft eine Frage der Perspektive. Was die Bundesregierung als Geste des Respekts gegenüber Polen ausgibt – die Auswahl ihres künftigen Botschafters in Warschau -, bewertet die PiS-Regierung in Warschau als Störfall in den Beziehungen.

Und so wartet Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven seit Monaten auf das „Agrément“: das Einverständnis Polens, ihn als Botschafter zu akkreditieren. Wann hat es eine so mutwillige Verzögerung unter EU- und Nato-Partnern je gegeben?

Im Auswärtigen Amt gilt Freytag von Loringhoven als einer der deutschen Topdiplomaten. Er war in Paris und zwei Mal in Moskau auf Posten, dazwischen arbeitete er im Planungsstab und im Büro des Ministers Joschka Fischer. Er war Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes, Vizechef der Europaabteilung im Auswärtigen Amt, Botschafter in Prag und beigeordneter Generalsekretär der Nato für Nachrichtenwesen.

Kurz gesagt: Ein idealer Kandidat für Polen; so einer macht sich keine Illusionen über Russland, hat Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der Polen und kann dank seiner Kontakte in Brüssel in EU- wie Natofragen vermitteln.

Deutscher Topdiplomat: Arndt Freytag von Loringhoven.
Deutscher Topdiplomat: Arndt Freytag von Loringhoven.

© Kamaryt Michal/picture alliance / dpa

In Warschau heißt es, die Entscheidung liege bei Parteichef Kaczynski

Die polnische Sicht? Die PiS-Regierung äußert sich offiziell nicht, warum es so lange dauert. Im Mai hatte Berlin um Zustimmung gebeten, mit Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli sollte Freytag von Loringhoven den Posten antreten. Aber in Warschau wird natürlich geredet über die Hintergründe. Und man kann verfolgen, wie polnische Medien mit dem Fall umgehen.

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Die Entscheidung liege beim „Präses“, heißt es: PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski. Er betrachtet das Verhältnis zu Deutschland als ein Ringen um Augenhöhe, in dem Polen sich konfliktbereit zeigen muss, um seine Interessen gegen den stärkeren Nachbarn zu behaupten. Zudem sind ihm innenpolitische Erwägungen in der Regel wichtiger als außenpolitische. 

Böse Worte in rechten Medien: Kreuzritter, Spion, Hitlers Adjutant

In rechten Medien kursieren böse Worte über den designierten Botschafter und die deutschen Absichten bei der Personalentscheidung: Ein „Spion“ sei er. Vorfahren gehörten zu den „Kreuzrittern“ des Deutschen Ordens, die Polens König Territorien im späteren Ostpreußen streitig machten, bis der sie in der Schlacht von Tannenberg 1410 besiegte. Besonders verdächtig sei die Rolle des Vaters des Diplomaten, in den letzten Kriegsmonaten 1944/45 angeblich „Hitlers Adjutant“ im Führerbunker in der Wolfsschanze.

Was liegt hier also vor: ein Fall mangelnden deutschen Fingerspitzengefühls, gar eine gezielte deutsche Provokation, um der PiS nach ihren Siegen in der Parlamentswahl 2019 und in der Präsidentenwahl 2020 Contra zu geben?

Der Botschaftsposten als Verhandlungsmasse?

Oder ist es umgekehrt: Die PiS will übelnehmen und konstruiert einen Affront – vielleicht auch, um in Verhandlungen Zugeständnisse von Berlin bei anderen Streitfragen zu erreichen, etwa dem Ziel, die Dominanz zweier deutschsprachiger Medienkonzerne, Springer-Ringier und Verlagsgruppe Passau, in Polen Regionalzeitungen zu brechen?

Aus deutscher Perspektive wirkt Polens Vorgehen auf den ersten Blick irrwitzig. Der Sohn soll wegen der angeblichen Gesinnung des Vaters nicht Botschafter in Warschau werden? Das klingt nach Sippenhaft. Zudem war der Vater weder Nazi noch Kriegsverbrecher noch Hitlers Adjutant. Er war der Abgeordnete des Heeres bei den Lagebesprechungen in der Wolfsschanze. Ein naher Verwandter war am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt.

Und worauf beruht der Vorwurf, der Sohn sei ein „Spion“? Er war Vizechef des BND war, eines Nachrichtendiensts in einer Demokratie, der parlamentarischer Kontrolle untersteht. Diesen Posten hatte auch Rüdiger von Fritsch inne, ehe er 2010 deutscher Botschafter in Warschau wurde; damals hat das niemanden in Polen gestört.

Die PiS ist in der Deutschlandpolitik gespalten

Anderseits sollte man auch nicht voreilig den Schluss ziehen, die PiS konstruiere böswillig einen Konflikt. Wäre das die Absicht des Präses gewesen, hätten regierungsnahe Medien eine scharfe Kampagne über Wochen gefahren. Die Indizien sprechen, erstens, dafür, dass Deutschland und Polen auch 75 Jahre nach Kriegsende in sehr unterschiedlichen Gefühlswelten leben, wenn es um die Geschichte geht.

Zweitens sprechen sie für einen Kampf zwischen Fraktionen innerhalb der PiS, die um einen härteren oder weicheren Kurs in der Deutschlandpolitik streiten. Und nun versucht Präses Kaczynski, die Lage für seine Innenpolitik zu nutzen.

Ähnlich war es bei den Reparationsforderungen. Ein PiS-Abgeordneter, Arkadiusz Mularczyk, hat das Thema getrieben. Die Regierung hat sich die Forderung nie offiziell zu eigen gemacht, sie aber in der Öffentlichkeit am Köcheln gehalten, um Druck auszuüben.

Es begann im Mai mit Halbwahrheiten

Der erste kritische Artikel über Freytag von Loringhoven war Ende Mai im rechtspopulistischen Medium „wPolityce“ erschienen, offenbar auf Basis durchgestochener Halbwahrheiten. Angeblich sollte erst ein „Polenfreund“, Andreas Peschke, Botschafter in Warschau werden. Dann habe Berlin sich „plötzlich“ umentschieden. Das sei Unsinn, heißt es in Berlin.

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Erst im August wurde das Warten auf das „Agrément“ zu einem breiten Thema in Polens Medien, angetrieben von einem Artikel in der regierungskritischen „Gazeta Wyborcza“. Ihr Deutschland-Experte Bartosz Wielinski gibt Warschau die Schuld an dem Konflikt. Regierungsnahe Medien wie das Staatsfernsehen berichten relativ neutral über den Konflikt. Die liberalkonservative Opposition wirft der PiS einen Mangel an Professionalität und Weitsicht vor. In der Belarus-Krise brauche Polen eine einige EU, ätzt ihr früherer Vizeaußenminister Pawel Kowal. Polens reales Problem seien die autoritären Regime im Osten und nicht Deutschland, der Nachbar im Westen.

In Polens Außenpolitik mischen zu viele mit

Und wie geht es nun weiter? Entschließt sich Warschau doch noch, Freytag von Loringhoven zu akzeptieren, nachdem die PiS ihr Missfallen und ihre Konfliktbereitschaft unterstrichen hat? Oder nominiert Berlin einen anderen Diplomaten?

Vorwände für ein Einlenken Polens ohne Gesichtsverlust gäbe es genug. Wegen Corona sind viele Entscheidungen liegengeblieben. Zudem war Ferienzeit mit wenig Personal. Und dann hat gerade auch noch der Außenminister gewechselt. Da dauert manches eben länger. Jacek Czaputowicz war es leid, als freundliche Fassade für eine chaotische Außenpolitik zu dienen, in der zu viele mitmischen wollen und damit ihn als Minister desavouieren. Die EU-Politik macht Premier Mateusz Morawiecki, die USA-Politik Präsident Andrzej Duda. Und das letzte Wort in jedem Streitfall hat Präses Kaczynski.

Andererseits könnte Deutschland, wenn es wollte, einen anderen Kandidaten finden, ohne Ordensritter und Wehrmachtsoffiziere in Hitlers direktem Umfeld unter den Vorfahren und ohne BND-Nähe.

Deutschland kommt mit der Situation besser zurecht als Polen

Doch warum soll Berlin der PiS entgegenkommen? Die hat schließlich mit Andrzej Przylebski einen Botschafter nach Berlin geschickt, der öfter den Konflikt als die Verständigung sucht.

Wenn sich ab September die offiziellen Anlässe wieder mehren, dürfte der unbesetzte Botschafterposten das hierarchiebewusste Polen mehr schmerzen als die Bundesregierung. Deutschland wird in Warschau von einem kundigen Geschäftsträger bestens vertreten: Knut Abraham.

Bei den ostmitteleuropäischen Nachbarn findet die PiS wenig Solidarität bei ihren Prestigekämpfen mit Deutschland. Wenn Polen die Balten, Tschechen, Slowaken oder Ungarn vor die Wahl stellt, entscheiden die sich im Zweifel eher für Kooperation mit Deutschland.

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