zum Hauptinhalt

Historischer EU-Gipfel: Hurra?! Nein, zu viele Fragen sind offen geblieben

Die Europäer haben sich am Ende geeinigt, wie sie das immer tun. Und die harten Fragen ungelöst gelassen, wie sie das eben auch immer tun. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

u

Sie haben sich am Ende geeinigt. Hurra! So wie die Europäer das am Ende immer tun. 1,8 Billionen Euro werden in den nächsten Jahren über Brüsseler Kassen an die EU-Staaten umverteilt – das sind völlig neue Dimensionen für die EU, jedenfalls was das Schuldenmachen angeht.

Großer Ehrgeiz, begrenzte Handlungsfähigkeit

Ist das jetzt der „Hamilton-Moment“? Der entscheidende Schritt, der aus einer EU mit 27 nationalen Staatsfinanzen einen europäischen Bundesstaat mit einer einheitlichen Finanzverfassung macht – so wie 1790 der damalige US-Finanzminister Alexander Hamilton den Grundstein für den Aufstieg der USA zur ökonomischen Supermacht mit dem Dollar als globaler Leitwährung legte, als er die Schulden der ehemaligen britischen Kolonien in Bundesschulden umwandelte? Jedenfalls der Legende nach.

Ach, Europa! Kein Vergleich ist zu gewagt, wenn es darum geht, die riesige Lücke zwischen dem Ehrgeiz, eine Supermacht auf Augenhöhe mit den USA und China zu werden, und der arg begrenzten Handlungsfähigkeit einer lockeren Union von Nationalstaaten zu füllen. Die USA sind nicht durch die Vergemeinschaftung der Schulden von Einzelstaaten zur Weltmacht geworden. Und ebenso wenig ist das der Königsweg für die EU zum Supermachtstatus.

Der Streit war richtig

Dass die 27 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs vier Tagen und vier Nächte gestritten und dass sie sich geeinigt haben, ist wohl das Beste, was man über diesen Gipfel sagen kann. Der harte Streit war gut, denn die EU muss sich ernsthaft der Frage stellen, wie sie handlungsfähiger wird.

Und dass die 27 sich nicht zum fünften Mal ohne Ergebnis vertagten, ist ebenfalls eine gute Nachricht. Viele andere Herausforderungen warten. Die EU kann es sich nicht leisten, den Hauptteil der Zeit und der Energie mit weiteren Finanzgipfeln zu vertun.

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Das war’s dann aber auch mit den guten Nachrichten aus Brüssel. Der Zusatz "... so wie Europäer das am Ende immer tun" gilt nicht nur für das Sich-Einigen, sondern auch für die Angewohnheit, die harten Fragen ungelöst zu lassen oder mit einem vordergründigen Kompromiss zu überkleistern.

750 Milliarden Euro Coronahilfe plus 1,1 Billionen EU-Budget für die nächsten sieben Jahre zu beschließen, zum Gutteil auf Pump, war der leichtere Teil des Programms. Die Mittel effektiv einzusetzen für den Kampf gegen die Corona-Rezession und die Schulden zurückzuzahlen, wird schwieriger.

Die "Sparsamen Fünf" verdienen Dank

Viele Fragen sind offen geblieben. Die so genannten "Sparsamen Fünf" (Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland) verdienen nicht Tadel, sondern Dank, dass sie diese Fragen zumindest hartnäckig gestellt haben. Warum müssen es überhaupt 750 Milliarden Euro Coronahilfe sein, warum hätten die von Angela Merkel und Emmanuel Macron ursprünglich vorgeschlagenen 500 Milliarden nicht gereicht? Was spricht dafür, dass die Umverteilung über die Brüsseler Bürokratie zielgenauer und unter dem Strich nützlicher ist als nationale Hilfsprogramme, für die die EU ihren Mitgliedsstaaten günstige Darlehen gibt?

Warum braucht ein reiches Land wie Italien überhaupt Hilfe von der EU? Es ist die drittstärkste Volkswirtschaft der Eurozone, ein Nettozahler in der EU, seine Bürger haben im Schnitt höhere Privatvermögen als die Deutschen oder die Niederländer. Und warum sollen EU-Gelder nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass Italien (und andere) ihr Finanzwesen, ganz voran das Steuersystem, reformieren?

Man kann die Bazooka nicht beliebig oft herausholen

Die EU hat groß mit großartig gleichgesetzt - auch das ist in der EU üblich geworden seit der damals durchaus effektiven Ankündigung des EZB-Chefs Mario Draghi, die EU werde tun "whatever it takes", um den Euro zu retten. Nur kann man die "Bazooka" nicht beliebig oft herausholen.

Der Gipfel hat zudem, noch so eine Üblichkeit, die Arbeit am Kleingedruckten versäumt: Es gibt keine effektive Kontrolle der Mittel, keine klaren Bedingungen für die Empfänger. Auch aus der Ankündigung, die Vergabe an die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaat zu binden, wurde beim Gipfel keine scharfe Waffe. Die Kommission und der Rat der Regierungschefs wollen sich "rasch" erneut damit befassen. Der Umstand, dass Länder wie Polen und Ungarn die Formulierung unterschrieben haben, lässt erkennen;: Sie glauben nicht, dass sie praktische Konsequenzen fürchten müssen. Wie ja auch die Südländer keine Bedingungen auferlegt bekamen.

Solange das so bleibt – allen wohl und keinem weh tun –, erfährt die EU keinen „Hamilton-Moment“, der ihr das Potenzial gibt, eine global handlungsfähige Großmacht zu werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false