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Nicht gut aufeinander zu sprechen: Der Erzbischof von Köln, Rainer Maria Kardinal Woelki Kardinal Reinhard Marx.

© imago images/ULMER Pressebildagentur

Historisches Kirchen-Beben: Der Reformer-Kardinal geht – und könnte andere mitreißen

Weil Amtskollegen die Missbrauchsskandale nicht energisch aufarbeiten, hat Kardinal Marx den Rücktritt beim Papst eingereicht. Und will so Reformen erzwingen.

Es ist ein Satz, den ein deutscher Kardinal so noch nie gesagt hat. Die katholische Kirche sei an einem "toten Punkt" angekommen, lässt sich Reinhard Marx in der Mitteilung der Erzdiözese München und Freising zitieren. Sie löst am Freitag ein Beben in der katholischen Kirche aus und wird bis hin zu US-Medien aufmerksam verfolgt. Marx sagt später in einem Statement, sein Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus sei "zu 95 Prozent" bereits an Ostern fertig gewesen. Er habe es dem Papst in Rom am 21. Mai vorgelesen. Dieser bat ihn zunächst um Bedenkzeit und ermutigte ihn dann aber vergangene Woche in einem Telefonat, den Schritt und das Schreiben öffentlich zu machen.

Mit ihm wird - sofern der Papst zustimmt - ausgerechnet der Reformer gehen, für viele der Falsche. Aber das könnte jetzt erst der Anfang sein.

Wie begründet Marx seinen Schritt?

Der zentrale Satz: „Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“, heißt es in dem Schreiben an den Papst.

Marx ist einer von acht Deutschen, die dem Kardinalskollegium, das den Papst wählt angehört. Stimmberechtigt sind aber nur die drei Kardinäle, die noch nicht 80 Jahre alt sind: Marx (67), Gerhard Ludwig Müller (73) und Rainer Maria Woelki (64). Der langjährige Vorsitzende der Bischofskonferenz betont, die Untersuchungen und Gutachten der zurückliegenden zehn Jahre zeigten für ihn durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gegeben habe, aber „eben auch institutionelles oder systemisches Versagen“. Manche in der Kirche hätten gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und würden deshalb „jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“.

Marx hat einen guten Draht zu Papst Franziskus und war einer der treibenden Reformkräfte und Verfechter des synodalen Wegs, eines Reformprozesses, der die katholische Kirche an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen soll.

Allerdings bleiben durch den Schritt auch Fragezeichen, etwa ob auch in seinem Bistum oder seiner Vorgängerstation Trier neue Enthüllungen drohten.

Noch nie in einer solchen Krise wie nun in der Corona-Pandemie spielte die Kirche eine so untergeordnete Rolle, die Menschen suchten früher hier Halt, jetzt verschärften die Debatten die Abwendung.

Massenaustritte und Priestermangel machen der Kirche schwer zu schaffen. Und zuletzt wurden die Spaltungen besonders offensichtlich. Am 10. Mai kam es zu einer bundesweiten Aktion unter dem Motto #Liebegewinnt: Über hundert Geistliche segneten gegen den Willen der Kirchenführung homosexuelle Paare, an einigen Kirchentürmen wehte die Regenbogenfahne.

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Epizentrum der Krise: Das Erzbistum Köln, nach Rom die wichtigste Diözese der Welt.
Epizentrum der Krise: Das Erzbistum Köln, nach Rom die wichtigste Diözese der Welt.

© imago images/Future Image

Auf wen zielen die Vorwürfe?

Ganz klar, auf den Kölner Erzbischof Woelki, dem erst ein Vertuschen und dann unzureichende Konsequenzen aus den Missbrauchsskandalen im Erzbistum Köln vorgeworfen wird. Ein von Woelki in Auftrag gegebenes Gutachten belastete vor allem den 2017 verstorbenen Kardinal Joachim Meisner, zudem unter anderen den zuletzt in Hamburg tätigen Erzbischof Stefan Heße, der daraufhin dem Papst den Rücktritt anbot. Marx betont in seinem Schreiben zwar: „Ereignisse und Diskussionen der letzten Wochen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle.“ Aber es ist offensichtlich, wer gemeint ist. „Er greift Kardinal Rainer Maria Woelki frontal an, wenn er von denen spricht, die sich hinter juristischen Gutachten verstecken und nicht bereit sind, die systemischen Ursachen der sexualisierten Gewalt in der Kirche mit mutigen Reformen anzugehen“, sagt der Kirchenexperte Thomas Schüller, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität lehrt. Marx betont, mit seinem Amtsverzicht könne vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt werden für einen neuen Aufbruch der Kirche. „Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums.“

Was bedeutet das für die katholische Kirche in Deutschland?

Eine Zäsur, aber wirklich eine. Denn das hat es so noch nicht gegeben: Ein Oberhirte, einer der bedeutendsten Kardinäle nicht nur in Deutschland, sondern der Welt, bietet seinen Rücktritt an – weil ihm der Kragen geplatzt ist. Zu lange schon dauert das Zögern der Amtsbrüder in der Bischofskonferenz. Intern wird schon länger darüber geredet, ob nicht vielleicht doch ein Rücktrittsangebot des gesamten Episkopats angemessen sei, bei so vielen Betroffenen, besser: Beschuldigten. Unterlassung,. falsches Verhalten, Missachtung und Geringschätzung der Opfer. Auch Marx selbst hat da einiges zu beigetragen, auch zu seiner Zeit als Bischof in Trier. Oder Georg Bätzing, heute Bischof in Limburg und Chef der Bischofskonferenz, früher in Trier Generalvikar und Leiter des Priesterseminars. Die Liste lässt sich weiterführen, über Köln, das Ruhrgebiet bis nach Hamburg und zurück. Mit dem Zögern aber wird es jetzt schwierig; denn wenn Marx Schluss macht, wer will dann einfach so weitermachen?

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Auch für den Vatikan bringt der Rücktritt unangenehme Fragen mit sich - und erzwingt Reformdruck.
Auch für den Vatikan bringt der Rücktritt unangenehme Fragen mit sich - und erzwingt Reformdruck.

© picture alliance / Gregorio Borgia/AP/dpa

Was bedeutet das für Rom?

Eine Chance. Eigentlich hatte man den Papst ja schon bei seinem Amtsantritt so verstanden, dass er in Sachen Missbrauch reinen Tisch machen will. Aber in der römischen Kurie, also bei den Geistlichen um ihn herum, versuchten sie seine Linie weichzuspülen. Sie hatten wohl Angst um die Grundfesten des Katholizismus, um die ewig alte, strenge Sexualmoral mit Zölibat etwa. Und Franziskus ließ den Eindruck zu. Inzwischen aber herrscht wieder der Franziskus vor, der mit Härte seine Kirche, sagen wir: reinigen will. Den sehr einflussreichen amerikanischen Kardinal Theodore McCarrick beispielweise hat der Papst zurückgetreten, so kann man es wohl nennen: McCarrick wurde als Kleriker entlassen, strafweise, und zwar als erster Kardinal der katholischen Kirche wegen im Priesteramt begangener sexueller Übergriffe. Nun könnte Franziskus mit dem Brief von Marx in der Hand auch in Deutschland aufräumen. Zwei Kontrolleure hat er schon entsandt, nach Köln, die wichtigste Diözese der Welt nach der Rom. Will der Papst ein Zeichen setzen – dann jetzt.

Bisher gab es erst einen Präzedenzfall: Die katholischen Bischöfe in Chile hatten 2018 nach einem landesweiten Missbrauchsskandal dem Papst beinahe geschlossen ihren Rücktritt angeboten. Etliche davon nahm Franziskus an.

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 Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, erläutert der Presse den beispiellosen Schritt.
Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, erläutert der Presse den beispiellosen Schritt.

© dpa

Gab es in Deutschland in jüngerer Zeit einen ähnlichen Schritt?

Nein, der ist beispiellos. Marx setzt damit ein Zeichen, er erkennt damit ein „Zeichen der Zeit“, wie es schon in der Bibel gefordert wird. Vielleicht gab es Rücktritte in grauer Vorzeit, sagen wir: im 14. Jahrhundert. Alt genug ist die katholische Kirche ja. Aber so etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Marx geht damit in ihre Geschichte ein.

Wie geht es mit dem synodalen Weg weiter?

Den will Marx, der Kirchen-Revolutionär, jetzt mit seinem Schritt auch noch einmal stärken, Es geht um eine strukturierte Debatte nach den Missbrauchs-Skandalen; geredet wird über Macht und Gewaltenteilung in der Kirche, Priesterliche Existenz, Frauen in Diensten der Kirche, Leben in Sexualität und Partnerschaft. Das klingt – nach einer Art neuer Reformation - und ist vielen, auch in Rom suspekt. Im Februar 2022 soll die Debatte abgeschlossen sein. Die Synodalversammlung hat 227 nementlich bekannte Mitglieder, Laien und Kleriker, 66 weiblich, 160 männlich, 1 divers. Einsprüche von Konservativen um Kölns Kardinal Woelki sind allesamt abgelehnt worden. Und Hinweise aus der Kurie in Rom wurden von Kardinal Marx kurzerhand zu „Ermutigungen“ erklärt.

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