zum Hauptinhalt
Grassierender Antisemitismus. Radikale Coronaleugner und Impfgegner inszenieren sich als angebliche Opfer einer nazi-ähnlichen Diktatur und verharmlosen den Holocaust

© Christophe Gateau/dpa

Update

Höchststand bei politisch motivierten Delikten: Mehr als 50.000 Straftaten durch Fanatiker in 2021

So viele Straftaten im Bereich extremistische Kriminalität wie im vergangenen Jahr gab es nicht seit 2001. Mitverantwortlich sind Coronaleugner und Judenhasser.

Von Frank Jansen

Es war wieder ein Jahr trauriger Rekorde. Die Polizei hat 2021 so viele politisch motivierte Straftaten wie nie zuvor seit 2001 registriert. Damals hatten die Innenminister das Erfassungssystem "Politisch motivierte Kriminalität (PMK)" eingeführt.

Das Bundesinnenministerium (BMI) meldet nun in seiner am Dienstag vorgestellten PMK-Bilanz für das vergangene Jahr 55.048 Delikte von Coronaleugnern sowie Rechtsextremisten, Linksextremisten, Islamisten und weiteren Fanatikern. Das sind über 10.000 Straftaten mehr als 2020 und eine Steigerung um mehr als 23 Prozent.

Damit wurde erstmals seit zwei Jahrzehnten die Marke von 50.000 einschlägigen Straftaten überschritten. Außerdem wuchs die Gewalt. Die Polizei zählte im vergangenen Jahr 3889 militante Delikte und damit 15 Prozent mehr als 2020. Mehr als 1400 Menschen wurden verletzt, fünf starben.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ist konsterniert. „Die politisch motivierte Kriminalität ist ein Gradmesser für die Intensität von gesellschaftlichen Konflikten", warnte Faeser bei der Vorstellung der PMK-Zahlen. "Wir haben 2021 sehr viele Straftaten im Zuge der Corona-Proteste registriert – bis hin zu exzessiven Gewaltdelikten." Die Ministerin mahnte, "wir müssen unsere Demokratie mit aller Kraft schützen".

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Ein gewaltiger Brocken in den aktuellen Zahlen und wesentlicher Grund für den steilen Anstieg sind PMK-Taten von offenbar politisch schwer einzusortierenden Coronaleugnern, Impfgegnern und anderen Protestlern. In der Bilanz ist von 21.339 Straftaten, die "nicht zuzuordnen" sind, die Rede. Das ist eine Zunahme um 147 Prozent, 2020 waren es noch 8624 Delikte.

Das BMI schreibt dazu, "die deutlichen Fallzahlensteigerungen des Jahres 2021 sind insbesondere mit den Themenzusammenhängen ,COVID-19/Corona-Pandemie' sowie ,Wahlen' zu begründen". Hier sei für die Polizei häufig keine Zuordnung zu „klassischen“ Phänomenbereichen wie rechts oder links motiviert möglich.

In Idar-Oberstein erschoss ein Maskengegner einen jungen Kassierer

Dass die Bundesrepublik 2021 so heftig von politisch motivierter Kriminalität heimgesucht wurde, ist aus Sicht des Ministeriums ohne die Pandemie und das Superwahljahr kaum zu erklären. Im vergangenen Jahr haben vor allem radikalisierte Coronaleugner und Impfgegner Hass und Hetze nochmal deutlich gesteigert.

Die Polizei zählte 2021 insgesamt 9201 "Straftaten im Kontext der Covid-19-Pandemie". Das sind fast 160 Prozent mehr als 2020. Mehr als 7000 Delikte im Zusammenhang mit der Pandemie konnte die Polizei weder eindeutig rechten noch linken Akteuren anlasten, deshalb sind sie "nicht zuzuordnen". Das gilt auch für den Mord in Idar-Oberstein. Dort erschoss im September ein Mann aus dem Milieu der Coronaprotestierer in einer Tankstelle den jungen Kassierer Alex W., weil dieser auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte.

Der zweite Grund für den enormen Anstieg der Gesamtzahl der Delikte politischer Fanatiker ist ein makaberes Ritual. Vor Wahlen nehmen politische Konflikte an Schärfe zu, Extremisten hoffen dann mit kriminellen Aktionen auf besondere Aufmerksamkeit. Und 2021 war ein Superwahljahr mit Abstimmungen in Bund und mehreren Ländern.

[Lesen Sie auch: Coronaleugner und Impfgegner: Lasst die Kinder mit Euren Ideologien in Ruhe! (T+)]

Die Stimmung wurde allerdings diesmal auch in den Wahlkämpfen so kräftig von Coronaprotestierern aufgeheizt, dass die Polizei 10.487 PMK-Delikte in direktem Zusammenhang mit Wahlen registrierte. Zum Vergleich: 2017, auch ein Superwahljahr, fielen "nur" 5579 politisch motivierte Straftaten in Wahlkämpfen an.

Mehr als 3000 antisemitische Straftaten

Einen weiteren Höchststand in der PMK-Bilanz seit 2001 gab es speziell auch bei den antisemitischen Delikten. Die Polizei zählte 3027 Fälle, das ist ein Anstieg um fast 29 Prozent gegenüber 2020. Damals schon hatte das Ministerium über einen Rekord bei den Straftaten von Judenhassern berichtet.

Als sich im Februar 2022 angesichts erster Trendmeldungen der Polizei abzeichnete, dass 2021 bei antisemitischer Kriminalität noch schlimmer war als die Jahre zuvor, bezeichnete der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, die Eskalation als "zutiefst erschreckend, aber nicht wirklich überraschend". Die Enthemmung und Radikalisierung, die vor allem unter den Corona-Leugnern und Impfgegnern zu beobachten sei, "trägt sicherlich zu dieser Entwicklung bei", sagte Schuster dem Tagesspiegel.

Ähnlich äußerte sich jetzt Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus: "Der neuerliche Anstieg antisemitischer Straftaten um 29 Prozent auf den Höchststand von 3.027 ist erschreckend." Doch könnten die Zahlen vor dem Hintergrund der Corona-Proteste, bei denen es zu zahlreichen Volksverhetzungen kam, und den zum Teil gegen gesetzliche Vorschriften verstoßenden Demonstrationen im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen im Nahost-Konflikt im letzten Jahr, "nicht weiter überraschen".

Antisemitismusbeauftragter Klein sieht auch positive Tendenz

Klein betonte allerdings, "in den gestiegenen Zahlen schlägt sich aber auch nieder, dass sich die Bereitschaft von Opfern und Zeugen erhöht hat, Straftaten zu melden. Und das werte ich als eine sehr positive Nachricht."

Im Mai 2021 hatten judenfeindliche Aufmärsche und Gewalttaten vor allem muslimischer Hitzköpfe das Land erschüttert, als die palästinensische Terrororganisation Hamas mit tausenden Raketen aus dem Gaza-Streifen Israel angriff und das israelische Militär massiv zurückschlug. Die meisten antisemitischen Straftaten, 2552 und damit mehr als 84 Prozent, schreibt die Polizei allerdings rechten Tätern zu.

Dennoch ist deren Part diesmal nicht ganz so groß wie sonst üblich. Angesichts der propalästinensischen Attacken auf Synagogen und auf die Polizei bei Demonstrationen stieg der Anteil antisemitischer Delikte mit "ausländischer Ideologie" auf 127 (2020: 40). Das bedeutet eine Zunahme um 217 Prozent.

Die enorme Zunahme von Judenhass erschreckt Ministerin. "Die massiv steigende Zahl antisemitischer Straftaten um noch einmal 29 Prozent macht mir größte Sorgen", sagte Faeser. "Es ist eine Schande für unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung auch heute verbreitet wird." Faeser nannte es "beschämend, wie der Völkermord an den europäischen Juden von manchen Corona-Leugnern, die sich einen gelben Stern anheften, verharmlost wurde". Immer wieder würden Juden "als Schuldige gesucht".

Weniger Delikte rechter Täter, aber ein vierfacher Mord

Für die meisten politisch motivierten Delikte, insgesamt 21.964, waren Neonazis und andere Rechte verantwortlich. Das ist ein Rückgang um fast sieben Prozent. Dennoch nahm die Gefahr nicht ab. Bei einer als rechts eingestuften Gewalttat starben vier Menschen. Im Dezember 2021 erschoss in Königs Wusterhausen (Brandenburg) ein radikaler Impfgegner, der an eine jüdische Weltverschwörung glaubte, seine Frau, die drei Kinder und sich selbst. Offen bleibt allerdings, warum diese Straftat von der Polizei eindeutig als rechts bewertet wurde und die Ermordung des Tankstellenkassierers Alex W. in Idar-Oberstein durch einen Coronaprotestierer als "PMK nicht zuzuordnen".

Faeser: Rechtsextremismus größte Bedrohung"

Innenministerin Faeser betonte, "41 Prozent aller Opfer politisch motivierter Gewalttaten wurden 2021 von Rechtsextremisten attackiert". Das zeige, "der Rechtsextremismus ist die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie und die größte extremistische Gefahr für Menschen in unserem Land".

Mit dem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus "haben wir die Gangart deutlich verschärft", sagte Faeser. "Wir müssen die Spirale von Hass und Gewalt stoppen." BKA-Präsident Holger Münch kündigte an, "ab dem heutigen Tage" würden rechte Gefährder und "relevante Personen", das sind mutmaßliche Unterstützer, "standardisiert" bewertet.

Das BKA hat dazu das Analyse-Instrument "RADAR-rechts" entwickelt. Damit werden Biografien und Verhaltensweisen gewaltorientierter Rechtsextremisten ähnlich unter die Lupe genommen wie bei militanten Islamisten.

Auch bei Reichsbürgern gab es eine starke Zunahme von Delikten. Die Polizei stellte 1335 Straftaten fest, das sind 73 Prozent mehr als 2020.

Linke Straftaten sanken um etwas mehr als sieben Prozent (2021: 10.113, 2020: 10.971). Die Delikte von Islamisten ("PMK religiöse Ideologie") stiegen geringfügig auf 479. Ausländische Extremisten jenseits der Islamistenszene begingen 1153 PMK-Delikte (2020: 1016). Bei den Tätern handelt es sich unter anderem um Anhänger der kurdischen Terrororganisation PKK sowie links- und rechtsextreme Türken.

Opferberatungsstellen werfen Polizei Versäumnisse vor

Kritisch sehen zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus das Zahlenwerk von Polizei und Innenministerium. „Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt“, sagte Robert Kusche vom Vorstand des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) am Dienstag in Berlin. Der Verband ist in den ostdeutschen Ländern inklusive Berlin und in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein aktiv.

Als Beispiel für die Defizite in den Polizeizahlen nannte Kusche den Fall des in Idar-Oberstein von einem Coronaleugner erschossenen Alex W. Für den VBRG ist unverständlich, dass der Mord eines Anhängers von Verschwörungsideologien nicht als rechts motiviertes Tötungsdelikt anerkannt wird, die tödlichen Schüsse des Impfgegners in Königs Wusterhausen auf seine Frau und die drei Kinder aber schon. Kusche sieht diesen Widerspruch als Beispiel für die oft falsche Verortung von Gewalttaten durch Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner in der polizeilichen Kategorie „PMK – nicht zuzuordnen“.

Grünen-Politikerin Mihalic fordert bei Einordnung von Straftaten "nachzuschärfen"

Ähnlich sieht das Irene Mihalic, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag. "Die Anzahl der nicht zuzuordnenden Straftaten, die fast so groß ist wie die Anzahl der rechts motivierten Straftaten, wirft viele Fragen auf und verdeutlicht die Notwendigkeit verbesserter Analysen", sagte Mihalic dem Tagesspiegel. "Bei Straftaten, die sich im Kontext der Corona-Proteste ereignen, hat die bisherige wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Analyse gezeigt, dass häufig rechtsextreme und antisemitische Narrative verbreitet werden. Es ist daher davon auszugehen, dass die rechtsextreme Bedrohung noch größer ist, als die aktuellen Zahlen darlegen." Für Mihalic gilt es, "diese Bewegung weiter zu analysieren und auch bei der Einordnung der Straftaten entsprechend nachzuschärfen."

Fast 1400 Angriffe mit mehr als 1800 Betroffenen

Der Verband der Opferberatungsstellen hat im vergangenen Jahr in den neun Bundesländern 1391 rechte, rassistische und antisemitische Angriffe registriert. 1830 Menschen sei betroffen gewesen. „Das sichtbare Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist dramatisch“, heißt es in der Mitteilung des Verbands. Und fast ein Sechstel der Betroffenen, insgesamt 288, seien „besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche“, teilte der Verband mit. In rund zwei Drittel aller Fälle, insgesamt 816, sei Rassismus das Tatmotiv gewesen. Die Angriffe hätten sich überwiegend gegen „Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche“ gerichtet. Der Verband erwähnte zudem, dass in 51 Fällen Journalisten von Coronaleugnern als „Lügenpresse“ diffamiert, angegriffen und bedroht wurden.

Aus Sicht der Opferberatungsstellen müssen Staat und Politik deutlich mehr unternehmen, um rechte Gewalt einzudämmen und Opfern effektiv zu helfen. Es gehe „um dringend notwendige Verbesserungen im Opferschutz und bei der Bekämpfung von Rechtsterrorismus und rechter Gewalt“ heißt es in einem Papier des VBRG mit zwölf Empfehlungen.

Opfer werden in "soziale Erniedrigung" gedrängt

Gleich zu Beginn heißt es, „Überlebende, Hinterbliebene und Verletzte schwerer rassistischer, antisemitischer und rechtsterroristischer Gewalttaten benötigen eine neu zu schaffende, unbürokratische Grundrente mit einer adäquaten Existenzsicherung“. Bis zur geplanten Reform des Opferentschädigungsrechts im Jahr 2024 würden viele Überlebende und Hinterbliebene rechter Attentate wie in Hanau und islamistischer Anschläge wie am Breitscheidplatz in Berlin angesichts bürokratischer Hürden „in Armut und soziale Erniedrigung gedrängt“. Außerdem müssten Betroffene rechter Brandanschläge und schwerer Sachbeschädigungen einen „unkomplizierten Zugang zu Entschädigungsleistungen durch das Bundesamt für Justiz sowie Opferfonds in den Ländern erhalten“. Die Angegriffenen stünden nach Anschlägen auf Restaurants, Lebensmittelgeschäfte, Shisha-Bars oder Imbisse „buchstäblich vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz“.

Für ein humanitäres Bleiberecht

Der VBRG fordert zudem die Bundesregierung auf, ein Gesetz für ein „humanitäres Bleiberecht für Betroffene rassistischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus auf den Weg zu bringen“. Für dringend notwendig hält der Verband auch einen „Notfallfonds für die Beratung und Begleitung von Betroffenen rechtsterroristischer Attentate“. Das gelte auch für eine adäquate Erhöhung der Ressourcen der jeweiligen Opferberatungsstellen“. Der VBRG wirbt zudem dafür, dass mit einer unabhängigen Studie das Ausmaß und die Ursachen der Diskrepanz zwischen den Statistiken der Opferberatungsstellen den PMK-Jahresbilanzen des Bundeskriminalamts untersucht wird.

Zur Startseite