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Neu verhandeln?

© AFP

Politik: Hoffen auf Hollande

Die Türkei erwartet, dass mit einem neuen Präsidenten in Frankreich die EU-Beitrittsgespräche wieder in Gang kämen.

In keinem anderen Land außerhalb der EU wird die Präsidentenwahl in Frankreich so aufmerksam verfolgt wie in der Türkei. Nach der Niederlage von Amtsinhaber Nicolas Sarkozy im ersten Wahlgang macht sich in Ankara die Hoffnung auf einen europapolitischen Neuanfang breit. Denn Sarkozy blockiert derzeit die Verhandlungen zur Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Türkische Beobachter hoffen nun, dass der Sozialist François Hollande nach einem Wahlsieg die Blockade in Brüssel aufheben würde. Doch auch unter Hollande wären die türkisch-französischen Beziehungen nicht plötzlich problemfrei.

Größer als Sarkozys Abneigung gegen die Türkei kann Hollandes jedoch kaum sein. Vor drei Jahren ließen Berater des Präsidenten angeblich sogar den Kurs von dessen Dienstjet über Paris ändern, um Sarkozy den Anblick des Eiffelturms zu ersparen – da dieser an jenem Abend aus Anlass eines Besuches des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan in rot-weißen Farben erstrahlte, den Nationalfarben der Türkei. In Brüssel lässt Sarkozy fünf der 34 Verhandlungskapitel der türkischen EU-Beitrittsgespräche blockieren, nämlich Wirtschafts- und Währungspolitik, Agrarpolitik, Regionalpolitik, Finanz- und Haushaltsbestimmungen sowie das Kapitel über Institutionen. Der französische Präsident argumentiert, Gespräche über diese fünf Politikfelder würden der Türkei die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft eröffnen – und das will Sarkozy nicht hinnehmen. Da wegen des Zypern-Streits weitere Kapitel auf Eis liegen, gibt es für die Türken bei den seit 2005 andauernden Beitrittsgesprächen so gut wie nichts mehr zu verhandeln, der Prozess ist zum Erliegen gekommen.

Deshalb könnte mit einer Abwahl Sarkozys in der Stichwahl am 6. Mai ein neues Kapitel der türkisch-europäischen Beziehungen beginnen, sagt Cengiz Aktar, Leiter des Instituts für EU-Studien an der Istanbuler Bahcesehir-Universität. Sollte Hollande die Wahl gewinnen, könnten die fünf gesperrten Artikel möglicherweise schon vor dem Sommer freigeschaltet werden. Anders als Sarkozy seien die französischen Sozialisten nicht strikt gegen einen türkischen EU-Beitritt.

Auch Ioannis N. Grigoriadis, ein griechischer Politologe an der Ankaraner Bilkent-Universität, rechnet mit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Türkei und Frankreich im Falle einer Niederlage Sarkozys. „Sarkozy hat viel politisches Kapital in seine Ablehnung des türkischen EU-Strebens investiert“, sagt Grigoriadis, „dass Hollande denselben Weg geht, ist nicht zu erwarten.“ Auch er hält eine neue Ära zwischen der Türkei und Frankreich für möglich.

Ein Durchbruch in den Verhandlungen ist nach Meinung des Politologen allerdings nur möglich, wenn einerseits auch die Türkei mehr für ihre EU-Bewerbung tut und andererseits Frankreich damit aufhöre, das emotional hoch aufgeladene Thema der muslimischen Zuwanderung mit der Frage der türkischen EU-Bewerbung in einen Topf zu werfen.

Semih Idiz, außenpolitischer Kommentator der Zeitung „Milliyet“, warnt jedoch vor übertriebenen Erwartungen an Hollande. Der Sozialist spiele ebenfalls das „populistische Spiel“ gegen die Türkei mit, sagt Idiz. Frankreich habe nach wie vor eine „pathologische Haltung“, wenn es um die Türkei gehe. Zum Beispiel habe Hollande das Vorhaben unterstützt, die Leugnung des türkischen Völkermordes an den Armeniern unter Strafe zu stellen, sagt Idiz. Der Gesetzentwurf wurde zwar im Februar für verfassungswidrig erklärt, doch könnte das Thema erneut auf die Tagesordnung kommen.

Mit Sorge betrachten auch türkische Beobachter das Erstarken der Rechtsnationalen Marine Le Pen. Sie befürchten, Sarkozys Umwerben ihrer Wähler für die Stichwahl könnte auf Kosten der Türkei gehen. Wenn Sarkozy dann doch im Amt bleibt, kommentierte der Fernsehjournalist Mehmet Ali Birand, „dann gute Nacht.“

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