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Hohe Dunkelziffer bei Corona: Zu wenig Tests, keine Nachverfolgung – wie eine Hausgemeinschaft sich ansteckte

Der Umgang mit Infektionsketten ist entscheidend für die geplanten Lockerungen. Doch daran hapert es noch immer.

Von Caroline Fetscher


Auf konkrete Kenntnisse kommt es an: Wer hat wen, wann, wo und wie angesteckt? Das zu erfassen ist essentiell, soll die nächste Phase der Anpassungen an die Pandemie erfolgreich sein. Ebbt die Flut der Fälle ab, ähnelt das einem gebannten Großbrand, einzelne Flammenherde werden schneller gesehen und gelöscht. So lautet die „Virologik“ der Sache: Lassen sich Infektionsketten nachvollziehen, kommen Infizierte gezielt in Quarantäne.

So war es zu Beginn der Pandemie, in den ersten Starnberger Fällen. Gut recherchiert und in der Folge eingehegt entwickelte sich daraus kein Herd. Inzwischen entstand bundesweit eine Phase der Überflutung mit Infektionsfällen. Ämtern wie Kliniken fehlten die Reserven, Infektionsketten nachzuspüren. Alle lernen. Viele improvisieren, und Beeindruckendes wird geleistet.

Doch eine einheitliche Praxis im Umgang mit Infizierten wie Infektionsketten wurde nicht eingeübt. Unterschiedlich gehen nicht nur Bundesländer vor, sondern sogar Stadtbezirke. So gehen, durch strukturelle Defizite und inkonsistentes Handhaben, täglich Daten verloren, die das Hellfeld größer, das Dunkelfeld kleiner machen können.

Nach der Rückkehr aus einem Corona-Hotspot wird nicht gefragt

Mikrostudien des Alltags liefern dieser Tage etwa Mehrfamilienhäuser wie eines im Westen von Berlin, ein kleiner Infektionsherd. Bewohnerin Frau X., rüstige Rentnerin, war zurück aus dem Urlaub bei Tirschenreuth, dem bayerischen Pendant zu Heinsberg. Ein Hotspot. Anfang März hatte die dortige Brauerei mit dem Slogan „Corona-Schluckimpfung“ zum Starkbier-Anstich geladen. Mehr als tausend Leute in der Region wurden krank.

Nachbarn müssen besser über Infektionsfälle informiert werden. Sonst bleibt die Dunkelziffer hoch.
Nachbarn müssen besser über Infektionsfälle informiert werden. Sonst bleibt die Dunkelziffer hoch.

© Oliver Berg/dpa

Bald erkrankte ein Berliner Freund von Frau X, Herr Y. Beide wurden Anfang April von einem Berliner Gesundheitsamt positiv auf Covid-19 getestet. Bei Herrn Y, der in der Nähe lebt, hatte eine Person in Schutzkleidung vor der Tür das Testset abgelegt, er erledigte seinen Abstrich und deponierte das Set auf der Fußmatte. Bei Frau X kam ein Abstrich-Team ohne Schutzkleidung.

Herr Y. wurde nach seinen Kontaktpersonen gefragt, Frau X, die länger mit Hausbewohnern geplaudert hatte, fragte man, soweit bekannt, nicht. Auch nach ihrem Aufenthalt an einem Hotspot war sie offenbar nicht gefragt worden. Schon der hätte hellhörig machen müssen.  

Frau X. zog sich in ihr Apartment zurück, sie litt unter dem Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn, seit Ende März als typisch erkanntes Covid-19 Symptom. Ohne vom Zustand ihrer infizierten Nachbarin zu ahnen entwickeln mehrere andere Hausbewohner die gleichen Symptome, teils auch Müdigkeit, Kopfweh, erhöhte Temperatur. Von den amtlich bestätigten Fällen im Haus wissen sie nichts, fühlen sich aber wie auf einem kleinen Kreuzfahrtschiff.

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Einige dieser Passagiere fahnden nach Tests, mit Dutzenden von Telefonaten. Doch ob bei der Corona-Hotline des Senats, bei Gesundheitsämtern, Hausärzten, Hals-Nasen-Ohrenärzten, es heißt: „Mit diesen Symptomen, und ohne bekannten Kontakt zu Infizierten kann man Sie nicht testen.“ Oder: Vielleicht sei das im Bezirk A möglich, nicht aber hier, im Bezirk B. Oder: Vom Gesundheitsamt getestet werde nur klinisches Personal. Oder: Testen lassen könne man sich eventuell in einer Klinik, dort herrsche aber ein Infektionsrisiko. Oder: Ins Haus kämen Teams nur zu immobilen Bürgern - was jedoch weder auf Frau X. noch Herrn Y. zutrifft. Keine Virologik, wohin die Bewohner auch blickten

Jetzt ist es angeblich zu spät für Tests

Am Tag nach Ostern erklärte das Robert-Koch-Institut den Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn zu den Symptomen. Durch Zufall erfahren die Hausbewohner dann auch von Frau X und einer weiteren Person im Haus, die positiv getestet wurde. Nun hätten alle an Bord ein Anrecht auf Tests. Allerdings ist es zu spät. Ämter und Ärzte bescheiden den Bewohnern jetzt: „Inzwischen bringt ein Test bei Ihnen nichts mehr.“

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Solange solche strukturellen Defizite bleiben, lassen sich Infektionsketten nicht hinreichend nachverfolgen, epidemiologisch wichtige Daten gehen verloren. Prinzipiell bedauerlich ist bereits die Tatsache, dass ein bekanntes Symptom wochenlang außer Acht gelassen wurde. Testkriterien, Testverfahren und der Umgang mit Betroffenen wirken inkonsistent.

In dem Berliner Beispielhaus wurden höchstwahrscheinlich Infizierte nicht getestet. Daher kamen sie nicht in Quarantäne. Als Teil einer vermeidbaren Dunkelfeld-Bevölkerung konnten sie das Virus verbreiten. Ihre Fälle gingen in keine Statistik ein. Über Infizierte unmittelbar neben ihnen im selben Haus wurden sie nicht in Kenntnis gesetzt.

Ihre Anrufe bei Ämtern wurden nicht mit bestätigten Fällen abgeglichen, was sofort Treffer produziert hätte. Möglich wäre in solchen Häusern auch ein Informationsblatt in jedem Briefkasten: „In Ihrem Haus existieren zwei Covid-19 Fälle, haben Sie Symptome, melden Sie sich“. Amtliches Augenmerk muss auch auf solchen Häusern und Hausgemeinschaften liegen, soll die Gruppe Dunkelziffer in naher Zukunft ertragreicher erfasst werden. 

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