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Politik: Hoppla – sind wir das?

Von Gerd Appenzeller

Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Heute vor einer Woche hat die Fußball-Weltmeisterschaft begonnen, die erste auf deutschem Boden seit 32 Jahren. Deutschland ist weit entfernt davon, Weltmeister zu sein. Nur einen kleinen Schritt ist die Mannschaft diesem Ziel näher gekommen. Aber sie hätte eben heute auch schon unerreichbar weit davon entfernt sein können. Das ist der Unterschied zwischen „alles ist möglich“ und „alles vertan“ – und ist noch viel mehr.

Wir mögen uns Deutschland ohne Weltmeisterschaft gar nicht vorstellen im Moment, ohne das Turnier, wohlgemerkt, nicht ohne den Titel, das ist etwas ganz anderes. Mit staunenden Augen schauen wir uns selbst wie in einem Spiegel an und beginnen zu erfassen, was wir sehen. Entweder verändert uns diese Weltmeisterschaft, oder sie hat uns die Augen dafür geöffnet, dass wir längst anders sind, als wir dachten. Wir alle, die wir in diesem Land leben, ob wir nun hier geboren oder zugewandert sind, ob schon unsere Eltern einen deutschen Pass hatten oder den eines anderen Landes. Und es hat natürlich sehr viel mit einer Mannschaft zu tun, die ihre Fans jetzt schon zwei Mal auf eine Achterbahn der Gefühle geschickt hat, auf die wir aber alle unbändig stolz sind.

Das ist so, weil sie ein paar jener Tugenden verkörpert, von denen uns unsere Väter und Großväter berichten, dass die das Ansehen des deutschen Fußballs begründet hätten. Einsatz bis zum Umfallen. Nie aufgeben. Spielen wie ein schlagendes Herz, das sich zusammenzieht und ausdehnt. Hart, aber fair sein. Und dann gibt es da noch diesen Trainer, Jürgen Klinsmann. Ihm haben die Jahre in Amerika offenbar das Herz auf andere Weise geweitet. Der zum Beispiel in einer Situation, in der vor, sagen wir zehn Jahren, ein deutscher Trainer abwägend gerechnet hätte, ob das 0:0 nicht auch reicht, Abwehrspieler herausnimmt und dafür Angreifer einwechselt. Volles Risiko, allen zeigen: Wir wollen gewinnen! Seien wir ehrlich, das ist doch die Art von Fußball, die die Menschen begeistert.

So viele Fans wie jetzt haben sich in diesem Land noch nie in Stadien, vor den Fernsehgeräten und auf den Plätzen vor den Großbildleinwänden vom Fußball mitreißen lassen. Es ist ein buntes Völkchen, ein internationales Publikum. Es staunt über ein Deutschland, das völlig verschieden ist von dem, das viele von ihnen erwartet hatten. Hier läuft was. Merkwürdig und auch ein wenig verrückt: Nicht nur unsere Gäste, auch wir selbst erleben uns völlig anders, als wir sonst sind – oder vielleicht zu sein glaubten? Ein Deutschland, das sich weder Bedenken tragend noch mürrisch präsentiert, ein Land, das fröhlich, begeistert und begeisternd ist, in dem schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt werden und in dem die Bürger ganz selbstverständlich die Nationalhymne mitsingen, ohne dass ein Hauch von Überheblichkeit oder Chauvinismus mitschwingt. Wer ausgerechnet darin den Geist des Nationalsozialismus erkennt, muss schon ziemlich verbohrt sein.

Diese Bürger. Mehr als 20 Prozent von ihnen haben einen so genannten Migrationshintergrund, das geht ja bis in unsere Mannschaft hinein. Hat uns das nicht auch verändert? Wenn in Neukölln und auf dem Kurfürstendamm junge Türken und Araber, in Deutschlandfahnen gehüllt, nach dem Sieg gegen Polen frenetisch hupend Autokorsos veranstalten, kann uns das die Augen dafür öffnen, dass dieses Land vielleicht viel weiter ist, als wir dachten. Wir dürfen es nur nicht vergessen, wenn die WM vorbei ist.

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