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Politik: „Ick bin bei de Stasi, ick halts nich aus!“ Was der Schauspieler Peter Reusse bei der Erstürmung beobachtete

Plötzlich flammen in verschiedenen Fenstern Lichter auf. Die Ersten haben das Gebäude gestürmt.

Plötzlich flammen in verschiedenen Fenstern Lichter auf. Die Ersten haben das Gebäude gestürmt. Im zweiten Stock wird ein Fenster geöffnet. Jugendliche schwenken eine schwarzrot-goldene Fahne und brüllen: Deutschland! Neben mir ruft einer: Die sind doch von der Stasi. Die wollen doch nur provozieren! Ein Honecker-Bild wird aus dem Fenster geworfen. Ein Bürosessel folgt. Ein Hilferuf von der Tribüne: Wer als Ordner helfen möchte, sofort melden! Ich hole meine Schärpe „Keine Gewalt“ aus der Tasche und reihe mich in ein Häuflein Unerschrockener ein.

Durch eine zersplitterte Glastür betrete ich Mielkes Macht- und Schaltzentrum. Die Wände sind mit Schimpfparolen beschmiert. Bilder der Politprominenz zertrümmert. Das Gedränge ist lebensgefährlich. Auf dem Klo brennt eine Kerze. Ein japanisches Fernsehteam filmt das. In den oberen Etagen liegt bündelweise Papier auf den Gängen. Zerstörte Büromöbel. Zertrümmerte Telefonapparate, Schreibmaschinen. Türen sind gewaltsam geöffnet worden. Schreibtische aufgebrochen. Alles wühlt in Akten. Akten, Zauberwort und größtes Reizsymbol.

Ich versuche die Leute zurückzuhalten: Hört auf, die Akten müssen gesichert werden. Ich finde Gelegenheit in den Akten zu blättern: Reihenweise Inventarlisten über Kaffeetassen, Besteck, Kochtöpfe. Bestelllisten für Brühwürfel und Blutwurst. Wir sind im Wirtschaftskomplex gelandet, nicht im Machtzentrum.

20 Minuten lang verteidige ich mit einem, der einen SPD-Button am Revers trägt, die eiserne Tür der Hauptkasse. Ein Glatzkopf mit Irokesenfrisur schwingt bedrohlich einen Sessel: Jahrelang haben die uns ausgebeutet, ich will mein Geld! Eine Frau geht somnambul durch die Gänge und singt, in der Hand hält sie ein Stück Pappe. Darauf steht: Keine Gewalt. Kaum hörbar ruft sie immer wieder: Hört bitte auf. Das japanische Team filmt sie.

Ein kräftiger Kerl mit Wattejacke und Filzstiefeln hat sich in ein Gewirr von Lohnstreifen gehüllt und brüllt: Ick bin bei de Stasi, ick halts nich aus! Einer schreit: Im Keller ist italienischer Wein! Eisentüren. Vorsicht, elektrische Anlagen. Die Küchenräume. Schweinehälften hängen an Haken. Schlachterwerkzeuge liegen auf den Tischen, wie eben beiseite gelegt, eine halb geleerte Flasche Vita Cola auf der Fensterbank. Die Menschen haben die Blicke von Jägern. Gierig. Was ist mit uns geschehen? Findet mit dem heutigen Tag unsere viel gerühmte sanfte Revolution ihr jähes Ende? Die Sansculotten stürmen die Paläste.

An der Wand eine Tafel mit den Speiseangeboten des Tages: Kohlrouladen. Zum Nachtisch Sauerkirschen. Jemand hat mit Kreide drübergeschrieben: Wasser und Brot! Das japanische Fernsehen filmt das. Ein älterer Herr steht wie ein Monument im Gedränge. Auf weißem Zeichenkarton hat er aufgezeichnet, wie die Stasi in seiner Wohnung Wanzen installiert hat.

Am Ausgang kontrollieren Leute von uns die Taschen. Meist wird das hingenommen. Auch Aktenbündel werden nach kurzer Diskussion zurückgegeben. Einer brüllt: Ick will meine Akte lesen. Und rückt dann doch die Küchenpersonalplanung für den Monat Dezember raus. Irgendwann ist alles vorbei. Wie durch ein Wunder haben sich die Räume geleert.

Peter Reusse war Schauspieler am Deutschen Theater und Mitorganisator der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Der 63-Jährige lebt heute als freier Autor in Berlin.

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