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Donald Trump, Präsident der USA, bei einer Wahlkampfveranstaltung

© Alex Brandon/AP/dpa

Identitätspolitik im US-Wahlkampf: Immer anders, immer gleich

Wer Identitätspolitik als Übertreibung kritisiert, übersieht: Es geht dabei um nicht weniger als die Grundrechte. Ein Gastbeitrag.

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie in Princeton. Diesen Herbst erscheint sein neues Buch „Furcht und Freiheit: Für einen anderen Liberalismus“.

Je näher die amerikanische Präsidentschaftswahl rückt, desto häufiger hört man eine klare Ansage an die Herausforderer Donald Trumps: Um Gottes Willen (oder um der Rettung der Republik willen) bloß keine überdrehte identity politics! Hillary Clintons Idee einer Regenbogenkoalition habe sie bei der Präsidentschaftswahl 2016 den Sieg gekostet; auf die Politik der Minderheiten habe Trump geschickt mit seiner Politik einer sich bedroht fühlenden weißen Mehrheit geantwortet. Das dürfe sich nicht wiederholen.

Doch diese vermeintlich so eindeutige Lektion eines Kulturkampfs, den angeblich Linke leichtfertig angefangen hätten, ist empirisch so nicht haltbar. Wie Sozialwissenschaftler aus Harvard nachgewiesen haben, war die berühmte – soll heißen: immer stereotyp als Beispiel für exzessive identity politics verwandte – Transgendertoilettenfrage 2016 gar kein Thema. Die topics, die in den Medien am ehesten mit Clinton assoziiert wurden, waren skandalträchtige Geschichten, die den Verdacht nährten, Clinton sei korrupt (Benutzung ihres privaten E-Mail-Servers, dubiose Vorgänge bei der Clinton-Stiftung etc.). Ihre sozialpolitischen Ideen für „everyday Americans“ (so der nicht gerade glückliche Ausdruck ihrer Wahlkämpfer) hingegen drangen in der Öffentlichkeit nicht durch (mit Trump wurde wiederum fast nur ein Thema verbunden: Einwanderung). Dass Clinton allein an „Sonderinteressen“ von Minderheiten (zu denen skurriler Weise auch Frauen gezählt werden) appelliert hätte, war keineswegs die dominante Wahrnehmung des Wahlvolks.

Ohnehin gilt: Bei dem was heute als Identitätspolitik abgetan wird, geht es nicht um „überschwängliche Buntheitsrhetorik“ (Wolfgang Streeck) oder narzisstische Selbstbespiegelungen, die wie Kritiker monieren, eine pseudopolitische Verlängerung unserer Selfie-Kultur darstellten. Bei der Bewegung Black Lives Matter etwa handelt es sich um den zum Teil verzweifelten Versuch, einer nicht so sehr indifferenten als eher ignoranten Mehrheit die, so möchte man meinen, eigentlich allgemein nachvollziehbare Erfahrung von Verwundbarkeit zu Bewusstsein zu bringen. Ihre Vertreter fordern ein selbstverständliches Grundrecht ein – nämlich nicht von der Polizei erschossen zu werden. Ähnliches ließe sich über #MeToo sagen. Auch hier geht es um ein Grundrecht: nicht von mächtigen Männern belästigt oder gar vergewaltigt zu werden.

Vom Stigma zum Stolz

Verfehlt ist zudem der wiederkehrende Vorwurf, hier sollten Menschen in eine Art Identitätsgefängnis gesperrt werden. Bewegungen suchen, Bürger zu mobilisieren; mobilisieren kann man aber nur, wenn man öffentliche Aufmerksamkeit auf gemeinsame Leidenserfahrungen lenkt. Und das geht wohl kaum, ohne im ersten Schritt auf die Identität, die einem (oft abwertend) zugeschrieben worden ist, Bezug zu nehmen. Dass dabei auch versucht wird, negative Erwartungen umzukehren – vom Stigma zu Stolz – ist nicht so sehr eine Abgrenzungs-, als vielmehr eine Ermutigungsstrategie beziehungsweise eine taktische Vereindeutigung von Identität. Wer Minderheiten vorwirft, sie würden ja immer nur narzisstisch von sich reden, verbietet den Stigmatisierten de facto, über ihr Stigma zu sprechen. Hannah Arendt bemerkte einmal, wenn man als Jüdin angegriffen werde, müsse man sich als Jüdin wehren. Eine Verteidigung, die sich sofort ins Allgemeine zurückzieht, lässt es gar nicht zu, besondere Umstände und Gründe eines Unrechts zu erkennen.

Zumal es nicht bei Politik als Wir-Stärkung bleibt. Nur muss man erst einmal dichte Beschreibungen offerieren oder einzelne Geschichten erzählen – aber auch etwas über die Geschichte, weil Grausamkeit, Unterdrückung und Ausbeutung nicht gestern angefangen haben. Strukturelle Gründe für Diskriminierung sind das eigentliche Thema, nicht allerlei feinste Verästelungen von Identität. Letztere werden allerdings wichtig, wenn es darum geht, die Überschneidungen verschiedener Formen von Diskriminierung zu erkennen.

Keine Identität ohne Grenzziehung

Die auch beliebte Vorstellung einer Symmetrie von liberaler oder linker Identitätspolitik auf der einen und einer rechtsgerichteten identitären auf der anderen Seite ist bestenfalls eine optische Täuschung. Erstere fordert Schutz ein, im Lichte genuiner Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Differenzen. Das heißt aber nicht, dass diese Differenzen absolut gesetzt werden oder dass man die Einzelnen nun identitär auf bestimmte Zuschreibungen festnagelt (als gelte es, ein neues Kastensystem von Kränkungsgraden zu schaffen). Neurechte identitäre Politik verlangt zwar auf den ersten Blick ebenfalls Schutz – zum Beispiel vor „Umvolkung“. Aber sie kann nicht plausibel machen, worin in diesem Fall die Diskriminierung oder auch das Leiden eigentlich bestehen soll; hier werden überhaupt keine Identitäten infrage gestellt oder angegriffen.

Es ist selbstverständlich nicht verwerflich, sich nach der eigenen Identität zu fragen. Aber politisch ist entscheidend, wie man mit der Identität der Anderen umgeht. Wird Anderen grundsätzlich die Legitimität abgesprochen, wie dies Populisten stets tun? Werden im Extremfall Konflikte als geradezu existenziell verstanden, so dass Politik zu Kultur- und Bürgerkrieg in einem wird (Heinz-Christian Strache schwadronierte von der Gefahr eines Bürgerkriegs in Österreich)? Keine Identität ohne Grenzziehung, lautet eine Binsenweisheit, für die man keine Freund-Feind-Theoretiker bemühen muss. Das ist aber etwas anderes als die Behauptung „Keine Identität ohne existenzielle Infragestellung des Anderen“. Der Clou an der modernen, liberalen Demokratie ist, dass man andere Bürger und ihre Lebensformen nicht lieben muss, man darf ihnen nur nicht verbieten, ihren eigenen Vorstellungen eines gelingenden Lebens nachzugehen.

Die selbstdeklarierten Feinde der Identitätspolitik fordern, die Minderheiten sollten sich doch bitte auf das Verbindende, und nicht das Trennende, konzentrieren. Das schließt von vornherein aus, dass die Idee, Rechte müssten immer wieder neu ausgehandelt werden, das Verbindende sein könnte, anstatt, wie bei den Rechtspopulisten, das Verbindende ein für alle Mal an bestimmten Lebensformen („unsere Art zu leben“) fest zu machen. Es wird auch einfach vorausgesetzt, Einigkeit sei in der Demokratie ein Wert an sich; das lässt dann vermeintliche Sonderwünsche im Namen einer „Politik der ersten Person“ sofort als Ruhestörung und letztlich illegitim erscheinen. Aber wenn es keine „Spaltungen“ gäbe und sich immer alle völlig einige wären, bräuchte es auch keine Demokratie. Doch diese ist ein (von Verfassungen und insbesondere Grundrechten) eingerahmter Konflikt. In der Demokratie ist Einigkeit kein Wert an sich.

Wie allgemein ist das Allgemeine?

Es wird oft nonchalant angenommen, jeder könne so ohne Weiteres das Allgemeine in Anspruch nehmen, also das Verbindende oder was die amerikanischen Anti-Identitätspolitik-Aktivisten Jonathan Haidt und Greg Lukinanoff ohne einen Anflug von Ironie „common-humanity identity politics“ genannt haben. Nur: Wie allgemein ist das Allgemeine? Immer und immer wieder mussten Menschen, die sich in keiner Weise des Rassismus oder Sexismus verdächtig finden, feststellen, dass ihr Vorstellungen von vermeintlich umfassenden Kategorien von „Bürger“ oder „Mensch“ (und den Rechten, die dann für diese Kategorien konstruiert werden) eben doch nicht so universal waren, wie sie gedacht hatten.

Im Grunde sagt man hier denen, die sich herausnehmen, die blinden Flecken verschiedener Formen von Universalismus zu benennen: „Hier gibt’s nichts zu sehen! Wir haben schon alles erreicht an Rechten et cetera, was es überhaupt nur geben kann.“ Zu Recht hat die Soziologin Silke van Dyk einen Universalismus, der einen angeblich real existierenden Universalismus als Produkt partikularer Interessen enttarnt, einen „rebellischen Universalismus“ genannt – im Gegensatz zu den Kritikern, die ihn als irgendwie lästigen Partikularismus penetranter Minderheiten denunzieren.

Erfolgreiche Kämpfe für Gerechtigkeit sind identitätspolitisch

Nun wird immer wieder moniert, die vermeintlich rein gefühlige Identitätspolitik (welche dem Gewissen ihrer liberalen Verfechter gut-, aber ihrem Geldbeutel nicht wehtue) verdränge das eigentlich Wichtige: Verteilungsgerechtigkeit. Solch eine falsche Gegenüberstellung übersieht, dass erfolgreiche Kämpfe für Gerechtigkeit immer auch „identitätspolitisch“ angelegt waren. Die Arbeiterbewegung – um nur das offensichtlichste Beispiel zu nennen – verstand sich eben nicht nur als eine Lohnarbeiter-Lobby, sondern auch als gemeinsames, würdewahrendes Kulturprojekt, in dem es um die Herausbildung einer bestimmten Lebensform ging (man erinnere sich an das Rote Wien der Zwischenkriegszeit, als Sozialdemokratien eine an Kultur- wie materiellen Gütern reiche Lebensform in der österreichischen Hauptstadt schufen).

Der Versuch, soziale Fairness gegen Forderungen nach Gleichberechtigung in Stellung zu bringen, basiert auf der Idee, es handele sich bei der Politik immer um ein Nullsummenspiel. Die Möglichkeit, eine Gesellschaft als Ganze könnte sensibler für Leiden werden und mehr Solidarität entwickeln, kommt gar nicht erst in den Blick (was wiederum nicht bedeutet, es müsse bei allem Einigkeit herrschen). Ebenso sind die hehren Universalisten, für die das Besondere immer nur vom großen Ganzen ablenkt, unfähig zu sehen, wie sich materielle Nachteile und Diskriminierungen oft gegenseitig verstärken. Man denke nur an den „psychologischen Lohn“ der weißen Arbeiter in den USA, also die „Zusatzleistung“, sich den Afro-Amerikanern überlegen fühlen zu dürfen.

Aus all dem folgt nicht, dass das Besondere immer nur von den Betroffenen erklärt werden kann (oder gar darf). Es heißt auch nicht, dass alle Ansprüche auf Sonderregelungen und Ausnahmen immer sofort alle Einwände schlagen. Wie der Philosoph Thomas McCarthy bemerkt hat, müssen die Opfer und direkt Betroffenen immer das erste Wort haben – aber nicht unbedingt das letzte. Feststeht jedenfalls, dass niemand das letzte Worte haben darf, der sich zuvor nicht die Mühe gemacht hat, die besonderen Erfahrungen derjenigen zu verstehen, die sich verwundbar und ausgeliefert fühlen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit – die aber nicht mehr selbstverständlich ist in einer Zeit, da Opfer oft genug verhöhnt oder lächerlich gemacht – oder gar gleich zum Abschuss freigegeben werden.

Jan-Werner Müller

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