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Im Blick: Todesurteile immer dienstags

Obama segnet gezielte Tötungen persönlich ab. Das Buch eines US-Journalisten erzählt detailliert von den allwöchentlichen Treffen, bei denen der Präsident und seine Berater die "Kill List" zusammenstellen. Reaktionen: auffallend wenige

Man darf sich eine gespenstische Szene vorstellen: Jede Woche, immer am Dienstag, beugt sich im Weißen Haus eine Runde hochrangiger Berater mit dem US-Präsidenten über eine Liste angeblicher Feinde der Vereinigten Staaten. Am Ende wird entschieden, wer weiterleben darf – und wer aus Gründen der nationalen Sicherheit sterben wird. Das letzte Wort hat sich Barack Obama selbst vorbehalten.

Die Praxis der „gezielten Tötungen“ ist zehn Jahre alt, Angriffe unbemannter Drohnen in Pakistan, Somalia und im Jemen sind so üblich geworden, dass sie im Westen fast nur noch als Kurznachrichten stattfinden – selbst wenn bekannt wird, dass gänzlich Unbeteiligte, ganze Familien dabei sterben. Nun aber bietet der Vorabdruck eines demnächst erscheinenden Buches des US-Journalisten Daniel Klaidman (Kill or Capture: The War on Terror and the Soul of the Obama Presidency) eine Art Hausbesuch zum „Tuesday Terror Briefing“. Der wohl im Sinne der US-Regierung war: Klaidman wurde ausgiebig mit Details und wörtlichen Zitaten versorgt, die Enthüllungen erreichten die US-Öffentlichkeit fast zeitgleich mit denen über „Stuxnet“, den Computerwurm, der 2010 wesentliche Teile der iranischen Urananreicherung außer Gefecht setzte – auch dies angeblich von Obama persönlich betrieben.

Anscheinend will der sich unentschiedenen Wählern so kurz vor der Präsidentschaftswahl als entschlossener Verteidiger Amerikas präsentieren. Und setzt wohl darauf, dass seine Menschenrechtsbilanz die wenigsten interessiert – oder dass Eindruck macht, wie der Präsident mit sich ringt, bevor er den Daumen senkt. „Wie können wir sichergehen, dass keine Frauen und Kinder dabei sind?“ fragt er dem Buch zufolge vor einem Einsatz. Harold Koh, Chefjurist im Außenministerium und einst Clintons Mann für Menschenrechte, wird mit dem Satz zitiert: „Wie wurde ein Rechtsprofessor wie ich zu einem, der an Tötungen beteiligt ist?“

Obama, selbst Verfassungsjurist, hat mit zwei Praktiken seines Vorgängers Bush gebrochen, mit Folter und geheimen Gefängnissen. Aber Guantanamo wurde nicht geschlossen und die „targeted killings“ seines Vorgängers Bush hat Obama sogar drastisch vermehrt: „Die Zahl hat sich unter ihm vervierfacht“, sagt Wolfgang Heinz vom Deutschen Institut für Menschenrechte. „Als Obama im Dezember 2009 den Friedensnobelpreis bekam“, schreibt Buchautor Klaidman, „hatte er schon mehr Drohnenangriffe abgesegnet als George W. Bush in seiner gesamten Amtszeit.“

Weltweit nimmt bisher freilich kaum jemand Notiz von der „Kill List“. Selbst im menschenrechtsstolzen Europa nicht. Dabei wurde vor gut 200 Jahren „die Bastille für weniger dem Erdboden gleichgemacht“, wie jetzt die italienische Politikzeitschrift „MicroMega“ ironisch anmerkte. Die lettres de cachet des Königs, die neben anderem Frankreichs Revolutionäre auf die Barrikaden trieben, hätten lästige Untertanen schließlich nur ohne Verfahren hinter Gitter gebracht. Heute würden sie, auch ohne Prozess, gleich umgebracht, schreibt Leitartikler Marco d’Eramo. Und keiner merke auch nur auf. Das sei „der eigentliche Horror“.

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