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Im Februar hat Kanata Akter (vorne rechts) ihre Ausbildung zur Hebamme abgeschlossen. Nun leitet die 21-Jährige eine Geburtsstation.

© Fabeha Monir

Im größten Flüchtlingslager der Welt: Eine Hebamme in Kutupalong

Kanata Akter ist eine der ersten Hebamme im größten Flüchtlingslager der Welt: Kutupalong in Bangladesch. Ihre Tätigkeit ist eine kleine Revolution.

Das Geheimnis einer sicheren Geburt ist ein Gebet. Wann immer Dildar Begum einem Kind auf die Welt half, sprach sie die heiligen Worte sieben Mal und weihte so das Wasser, das sie der Mutter zu trinken gab. Starb die Frau, war das Gottes Wille.

Das Geheimnis einer sicheren Geburt ist medizinisches Wissen. In ihrer Ausbildung lernte Kanata Akter, dass hoher Blutdruck und Schwindel auf eine Schwangerschaftserkrankung hinweisen, an der Frauen sterben können. Sie lernte, wie sie Risikofälle erkennt und behandelt – und dass der Tod in den meisten Fällen leicht vermeidbar ist.

Dildar Begum und Kanata Akter sind Hebammen in Kutupalong in Bangladesch, dem größten Flüchtlingslager der Welt, in dem die aus Myanmar vertriebenen Rohingya leben. Dildar Begum ist 45 Jahre alt. In ihrem Heimatland Myanmar war sie eine „Dai“, eine traditionelle Geburtshelferin, wie es sie auch hier in Bangladesch gibt. Ihr Wissen wurde über Generationen weitervermittelt. Dildar Begum jedoch empfing es von Gott. Damals war sie 19 Jahre alt. Kanata Akter ist 21 Jahre alt und eine der ersten professionellen Hebammen des Landes. Künftig sollen Dais keine Geburtshilfe mehr leisten, sondern nur noch Frauen wie Akter. Doch nur gemeinsam können sie diese Veränderung stemmen.

Angespornt durch die Millennium-Entwicklungsziele, schaffte es die Regierung in Bangladesch, die Mütter- und Kindersterblichkeit in den vergangenen 20 Jahren um zwei Drittel zu senken. Im globalen Vergleich liegt das Land damit im Mittelfeld – laut Weltgesundheitsorganisation auf Platz 55 von 180. Doch dort stagniert die Müttersterblichkeitsrate nun seit Jahren. Jede zweite Frau im Land entbindet ohne professionelle Hilfe.

Weil das so nicht bleiben soll, verkündete die Premierministerin Hasina Wajed bereits 2010, eine Ausbildung für Hebammen einzuführen. Hebammen sind laut WHO der effizienteste Weg, eine Grundversorgung für Frauen und Neugeborene zu gewährleisten. 3000 Frauen sollten in den ersten Jahren diese für das Land neue Profession antreten. Der UN-Bevölkerungsfonds half bei der Entwicklung eines international anerkannten Lehrplans.

Dildar Begum hat sich eine rote Arbeitsweste als Sonnenschutz auf den Kopf gelegt. Rot sind auch ihre Mundwinkel vom Kauen der Betelnussblätter. Rot wie das Blut einer Geburt, das ihr nicht mehr die Hände verfärbt. Dildar Begums Farbe steht für ihre neue Aufgabe – und die Aufgabe ihrer alten.

Blut einer Frau gilt als dreckig

Begum ist Witwe, ihr Mann verschwand vor mehr als 20 Jahren, als die Armee in Myanmar ihn rekrutierte. Frauen haben in ihrer Gesellschaft ohnehin eine niedrige Stellung. Ohne Mann sind sie noch weniger wert. Auch die Arbeit als Geburtshelferin ist stigmatisiert, in vielen Kulturen wird weibliches Blut als dreckig betrachtet – und damit auch jene, die es wegwischen. Aber das macht Dildar Begum nicht mehr.

Es ist beinahe zehn Uhr, Zeit für ihre Visite. In ihrem langen, beigefarbenen Kleid schlappt Begum träge die staubige Straße entlang. Es ist der einzige asphaltierte Weg in Camp 4, am nördlichen Rand von Kutupalong. In Myanmar wird die muslimische Minderheit der Rohingya verfolgt. Seitdem hunderttausende von ihnen nach Bangladesch flohen, lebt fast eine Million Menschen hier im Lager. Bangladesch und Myanmar verweigern den Rohingya die Staatsangehörigkeit. Rückführungsaktionen wurden immer wieder abgebrochen. Im Lager hat sich längst Alltag eingestellt. Morgens zwischen 9 und 10 Uhr schiebt sich eine Kolonne von Kleinbussen durch die Zeltstadt aus Bambusstäben und Planen. Sie transportieren die Mitarbeiter der vielen Hilfsorganisationen vom Urlaubsort Cox’s Bazar, wo die meisten wohnen, zu ihrer Arbeitsstelle. Auf den Straßen sind fast nur Männer zu sehen, sie laufen zur Arbeit auf dem Markt oder folgen dem Gesang des Muezzin, um in einem der vielen öffentlichen Zelte gemeinsam zu beten. Zwischen den Zelten springen Kinder umher. Dildar Begum steckt ihren Kopf durch eine Zeltöffnung. Eimer und Kanister mit dem Logo der UN-Flüchtlingshilfe liegen auf dem Steinboden verstreut. Im Zelt ist es dunkel, ein Feuer brennt. Auf dem Boden, in Stoff gewickelt, jammert ein Neugeborenes.

Sechs Tage die Woche besucht Dildar Begum am Vormittag schwangere Frauen und junge Mütter im Camp. Sie ist eine von zehn Dais, die das Hope-Field-Krankenhaus im Lager bei der Arbeit unterstützen, „Gesundheitshelferinnen“ werden sie genannt. 70 Prozent der Menschen im Flüchtlingslager sind Frauen und Mädchen, allein 2018, so schätzen Hilfsorganisationen, kamen hier rund 60 000 Kinder zur Welt. „Was ist passiert?“, fragt Dildar Begum. Gestern erst hatte sie die junge Frau namens Monsura ins Krankenhaus begleitet. Dort habe man ihr ein Stethoskop an den Bauch gehalten, erzählt die 30-Jährige. Sie lächelt schwach. „Ich konnte den Herzschlag des Babys hören.“ Als sie zurückkam, begannen die Wehen. Noch vor dem Abendgebet kam ihr dritter Sohn zur Welt, eine Nachbarin half.

Monsura schiebt ihre Füße unter dem Gesäß hervor und bis kurz vor die Flammen. Sie sind nach innen gebogen, eine angeborene Fehlstellung. Ohne Dildar Begums Hilfe käme sie nicht ins Krankenhaus. Eine Einrichtung, die Leben retten soll, vor der aber viele Angst haben. Es gibt Gerüchte. Werden Kinder ausgetauscht? Oder getötet? Dildar Begum versichert den Frauen, dass sie bei ihnen bleibt, dass sie ihre Mütter mitbringen können, dass ihre Babys Medizin bekommen und sie Essen. Die Frauen vertrauen ihr, weil sie aus derselben Gegend kommen. Weil sie gemeinsam geflohen sind, dieselben Gebete sprechen.

Angst vor dem Krankenhaus

Kanata Akter muss sich dieses Vertrauen erst erarbeiten. „Ist deine Fruchtblase geplatzt?“, fragt sie eine junge Frau, die vor ihr auf einer Liege im Hope-Field-Krankenhaus liegt. Eine der Dais hat sie am Vormittag hergebracht. Ihr Babybauch streckt sich unter dem braunen Baumwolltuch empor, das sie um ihre Hüften gewickelt hat. Sie atmet schwer, klagt über Bauchschmerzen. Kanata Akter trägt Brille und einen weißen Hijab mit pinken Blumen – farblich abgestimmt zum pinken Kittel, dem unverkennbaren Merkmal ihrer Zunft. Sie nennen sich nicht Dais, sondern „Midwives“, das englische Wort für Hebamme. Pink, das ist in Bangladesch jetzt die Farbe der Zukunft, der Emanzipation. Pink, das sind Bangladeschs Hebammen.

Akter arbeitet seit Mai im Hope-Field-Krankenhaus, das im Gewusel des Camplebens wie eine Ruheoase wirkt. Von der Straße führt eine Treppe hinunter in ein kleines Dorf aus grün und blau lackierten Wellblechhäuschen. Schmale Pfade verbinden die Stationen, Pflanzen sprießen zögerlich aus dem trockenen Boden. Es wird noch immer gebohrt und gehämmert, das Krankenhaus hat erst im September offiziell eröffnet. Sieben Ärztinnen und Ärzte arbeiten hier, neun Krankenschwestern und sieben Hebammen. Eine Gynäkologin fehlt noch und der Operationssaal ist noch nicht fertig. Obwohl bereits bis zu 40 Frauen täglich zu Vor- und Nachuntersuchungen ins Krankenhaus kommen, gebären die wenigsten auch ihre Kinder hier.„Die meisten wollen lieber zu Hause entbinden. Das ist das, was sie kennen“, sagt der medizinische Leiter des Krankenhauses, Rolando Vela. In Myanmar hätten die meisten nie einen Arzt besucht. Hinzu kämen kulturelle Hürden. „Frauen haben Sorge, dass Männer im Krankenhaus anwesend sind. Deswegen haben wir hier strikte Regeln. Nicht mal ich als Direktor darf die Geburtsstation betreten.“

Bei ihrem ersten Besuch zeigt Kanata Akter den Frauen die Geburtsstation mit ihren drei Zimmern, in denen Frauen in Abayas, langen schwarzen Überkleidern, und Kinder auf ihre Untersuchungen warten. Und sie zeigt ihnen den Kreißsaal: ein kahler Raum mit weißen Wänden, darin eine metallene Liege. Über der Tür hängt ein selbst gemaltes Plakat. Mit bunten Filzstiften haben die Hebammen darauf geschrieben: Willkommen im Entbindungsraum.

Kanata Akter kommt aus dem Ort Ramu, elf Kilometer vom Badeort Cox’s Bazar entfernt. Als sie noch ein Mädchen war, seien manche Nachbarinnen bei der Geburt ihrer Kinder gestorben, erzählt sie. Akter fragte sich, wieso. Dabei hatte sie es so gelernt: Wenn Frauen gebären, können sie sterben. Mit zehn musste sie wegen einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus und war fasziniert von den Krankenschwestern, die so viel wussten. Damals beschloss sie, in die Medizin zu gehen. Ihre Ausbildung zur Hebamme schloss sie im Februar dieses Jahres ab. Die war nicht Teil des offiziellen Regierungsprogramms, sondern von der Hilfsorganisation BRAC initiiert.

Akters Kollegin misst den Blutdruck der Schwangeren: 130 zu 90, leicht erhöht. „Wir müssen ausschließen, dass es sich um Präeklampsie handelt“, weist Kanata Akter sie an. Präeklampsie ist die Vorstufe zu Eklampsie, eine der vier häufigsten Todesursachen infolge einer Schwangerschaft. Die Symptome: hoher Blutdruck, Wassereinlagerungen, erhöhte Mengen Eiweiß im Urin. Akter hat noch keinen Fall davon behandelt und es gibt niemanden, den sie fragen kann. Die Leiterin der Station ist sie selbst. Pink, das ist die Farbe der Pionierinnen – und des Probierens.

Sie liebt die neue Eigenständigkeit

Die Frauen stehen nicht nur vor der Herausforderung, die Gesellschaft von ihrem Können zu überzeugen. Sie müssen auch sich selbst eine Identität als Hebamme formen. Einfach sei das nicht, sagt Rondi Anderson. Die amerikanische Hebamme arbeitet für den UN-Bevölkerungsfonds in Bangladesch und betreut den Nachwuchs. Allein in den Flüchtlingscamps sind das 120 Hebammen. Sie arbeiten in Einrichtungen der UN und bei Partnerorganisationen wie dem Hope Field Hospital. Eines der größten Probleme sei der Mangel an Vorbildern. Selbst die Lehrerinnen sind keine Hebammen, sondern Krankenschwestern mit Zusatzqualifikation. Auch wenn der Lehrplan internationale Standards erfüllt: „Wir brauchen auch eine Qualitätskontrolle in der Ausbildung.“

Gleichwohl habe die Unerfahrenheit den Vorteil, dass die Frauen noch nicht die hierarchischen Strukturen des Gesundheitssystems verinnerlicht hätten. „Die Wahrheit ist: Hebammen kämpfen überall auf der Welt um Anerkennung. Medizinische Versorgung war lange vor allem männlich. Die Autonomie der Hebammen fordert dieses System – und damit auch Männer – heraus.“

Statistisch nachweisen lässt sich bislang nicht, dass Hebammen die Müttersterblichkeitsrate in Bangladesch beeinflussen. 20 000 Hebammen bräuchte das Land laut Rondi Anderson, um ausreichend Versorgung bereitzustellen. Aktuell gibt es etwa ein Zehntel davon.Manche werden als Krankenschwestern eingesetzt statt auf der Geburtsstation. Und auch insgesamt mangele es an guter Versorgung und Personal. „Wir stehen hier noch ganz am Anfang“, sagt Anderson.

„Atme tief ein und aus“, sagt Kanata Akter mit einer Ruhe, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sanft massiert sie der Schwangeren mit den Bauchschmerzen Schläfen und Stirn. „Es ist heiß draußen, der Weg war anstrengend. Wir schauen, ob der Blutdruck sinkt, wenn sie sich entspannt.“ Eine Stunde später schläft die werdende Mutter, die Diagnose: „Magenverstimmung.“

Für Kanata Akter ist das Beste an ihrem Beruf die Eigenständigkeit. Schon für die Ausbildung zog sie aus ihrem Elternhaus aus – ungewöhnlich für eine junge Frau in einem Land, in dem fast 60 Prozent der Frauen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet werden. Sie habe gelernt, ihre Stimme zu erheben, sogar ihre Familie höre jetzt auf sie. Sie würde gern im Ausland studieren und Hebammenexpertin werden, wie Rondi Anderson. Sie wäre gern anderen das Vorbild, das ihr fehlt.

Dildar Begum betreut zwar keine Geburten mehr, sie gibt keine Anweisungen mehr, zu pressen, oder bindet Nabelschnüre ab. Sie hat ihre göttliche Gabe gegen ein warmes Essen am Tag getauscht. „Ich kann nicht nur von Reis und Linsen leben.“ Dildar Begum trägt jetzt Verantwortung. Und ihre Nachbarn schätzen sie, weil sie ihnen helfen kann.

Die Recherche wurde vom Health Reporting Grant des European Journalism Centre finanziert.

Julia Wadhawan

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