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Ein unkrainischer Grenzposten unweit von Charkow

© dpa

Im Osten der Ukraine: Spiele mit dem Feuer

Prorussisch oder prowestlich? Die ostukrainische Stadt Charkow ist vielleicht die russischste im ganzen Land. Auch hier stellt sich die Frage: Wer hat die Macht? Separatistische Kräfte wurden von Moskau stets gefördert.

Aus 20 Metern Höhe blickt Wladimir Iljitsch Lenin über den riesigen Freiheitsplatz von Charkow. Dieses Denkmal war es, das die Emotionen der Charkower bis heute hochkochen lässt. Über Wochen hatten die Ostukrainer zugeschaut, wie die Maidan-Revolutionäre im Rest des Landes ein Lenin-Denkmal nach dem anderen stürzten. Am Samstag, dem Tag nach der Revolution in Kiew, sollte es auch hier so weit sein. An diesem Tag ging Alexander Suworow das erste Mal auf die Straße: „Wir sind ein Volk. Wir sollten gemeinsam gegen die korrupten Führer kämpfen, die unser Land unter sich aufgeteilt haben“, sagt der Physiker am Sockel des Denkmals, wo die kommunistische Partei einen Infostand aufgebaut hat. „Aber warum wollen die Nationalisten die Geschichte zerstören?“

An jenem Tag konnten sie den Sturz des Denkmals abwenden, seitdem ist Suworow auf jeder Demonstration gewesen, zuletzt gegen die Ernennung des neuen Gouverneurs am Mittwoch. Und ja, auch er hat gerufen „Rossija, Rossija“. Warum? Suworow antwortet mit einem ukrainischen Sprichwort, und dabei wird die Stimme des Physikers plötzlich gehässig: „Mit eurem eigenen Speck hauen wir euch auf den Mund.“ Will sagen: Die ukrainischen Nationalisten haben die Macht in Kiew usurpiert, dafür rächen wir uns und spielen mit dem Feuer der Abspaltung. „Putin ist für mich kein Besatzer, sondern ein Befreier. Wer soll uns sonst schützen?“

Die Angst vor dem Unbekannten hat Menschen wie Suworow auf die Straßen gebracht. Natürlich haben russische Medien ihre Rolle gespielt. Aber auch die unkluge Politik der Maidan-Führer: Kein Klitschko, kein Tjagnibok, kein Jazenjuk hat sich in den letzten drei Monaten im Osten des Landes blicken lassen, stattdessen erfuhren die Menschen hier davon, dass ein Gesetz geplant war, das den Gebrauch der russischen Sprache verbieten sollte.

Charkow ist mit knapp zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine und eines der wichtigsten Industriezentren des Landes. Zehntausende arbeiten hier in riesigen Fabriken, die zu Sowjetzeiten der Stolz des Landes waren und auch heute noch Turbinen, Traktoren, Panzer und Motoren produzieren – und den größten Teil davon nach Russland liefern. Charkow ist auch deshalb die vielleicht russischste Stadt der Ukraine, auf der Straße hört man fast nur die russische Sprache. Und Russland fördert hier seit Jahren separatistische Kräfte: Der Nachbar finanziert prorussische Organisationen und Kongresse, zu denen Mitglieder der Staatsduma anreisen.

Das Motto: "Russischer Frühling"

Seit Anfang März rollt eine gegen die neue Kiewer Regierung gerichtete Demonstrationswelle über Charkow und die anderen ostukrainischen Großstädte. Unter dem Motto „Russischer Frühling“ gehen zehntausende Menschen auf die Straße, schwenken russische Flaggen, schimpfen auf die Faschisten, die in Kiew angeblich die Macht übernommen haben. Auch tausende russischer Demonstranten nahmen nachweislich daran teil: Nach Charkow etwa kamen Busse aus der nur eine knappe Autostunde entfernten russischen Großstadt Belgorod. Und es stellt sich die Frage: Wer hat die Macht im Land?

Einen großen Teil der Macht in Charkow hat noch immer Gennadij Kernes. Der 54-Jährige ist hier seit 2010 Bürgermeister, gemeinsam mit dem eben geschassten Gouverneur kontrollierte er in den letzten Jahren die Stadt. „Die Menschen in Charkow fühlen sich sicher, die Situation ist stabil“, sagt er in seinem Arbeitszimmer der Stadtverwaltung. An der Wand hängen Gobelins mit Darstellungen der Charkower Geschichte, auf dem Beistelltisch neben Kernes ächzt ein gusseiserner Atlas unter dem Gewicht der Erdkugel. Kernes trägt einen eleganten Anzug und eine schwarze Designerbrille, aber er ist unrasiert und sieht müde aus. Die letzten zwei Wochen waren für Kernes, der die Demonstranten des Kiewer Maidan als Verrückte und ihre Führer als Schwuchteln beschimpfte, schwierig. Milde gesagt.

Am Tag der Revolution in Kiew spielten sich in Charkow dramatische Szenen ab: Hier hatte sich im Februar die gegen den Maidan gerichtete „Ukrainische Front“ gegründet, nun versammelten sich im Sportpalast tausende Abgeordnete der südlichen und östlichen Regionen, und Beobachter erwarteten einen gegen Kiew gerichteten Schlag, im schlimmsten Fall eine Abspaltungserklärung. Janukowitsch hatte nach seiner Flucht aus Kiew in einer Residenz bei Charkow übernachtet. Würde er auftreten? Auf die Straßen stürmten weit über zehntausend Unterstützer des Maidan, bereit, den Kongress der Separatisten zu stürmen. Doch die Aufregung legte sich: kein Janukowitsch, keine Abspaltungserklärung, stattdessen flohen die Vertreter des „alten“ Regimes, Kernes und der von ihm unterstützte Gouverneur Michail Dobkin über die Grenze nach Russland, Janukowitsch auf die Krim. Zu guter Letzt wurde die in Charkow inhaftierte Julia Timoschenko in einer Ad-hoc-Aktion aus dem Gefängnis geholt und nach Kiew gebracht.

Die Zentralregierung in Kiew verlässt sich auf die Macht der Oligarchen

Ende Februar zog sich die Schlinge um Kernes’ Hals weiter zu: Neben Janukowitsch standen auch die Namen Kernes und Dobkin auf der Liste, deren Konten die Schweizer Bankaufsichtsbehörde einfror. „Ich spüre, dass um mich gearbeitet wird, dass Haken ausgelegt, Fallen gestellt werden“, sagt Kernes nach seiner Rückkehr nach Charkow. „Aber ich erkläre: Der ist ein guter Sieger, der seinen Feind zum Freund macht.“

In den Nachbarregionen führte der „Russische Frühling“ zu ernsthaften Konflikten: In Donezk hatte sich ein junger prorussischer Aktivist auf einer Großdemonstration am 1. März zum „Volksgouverneur“ ausrufen lassen und zusammen mit anderen die Gebietsverwaltung besetzt. Insbesondere wehrten sich die Demonstranten gegen die Ernennung des Multimillionärs Sergej Taruta zum neuen Gouverneur. Erst am Donnerstag konnte sich die Zentralregierung durchsetzen, die besetzten Gebäude wurden geräumt. Auch im benachbarten Dnepropetrowsk verlässt sich die Kiewer Zentralregierung auf die Macht der Oligarchen: Der neue Gouverneur Igor Kolomojskij ist mit drei Milliarden Dollar der zweitreichste Ukrainer.

Kernes musste die Absetzung „seines“ Gouverneurs hinnehmen, aber mithilfe des „Russischen Frühlings“ scheint er sich gefangen zu haben. Am vorigen Samstag zeigte er seine Macht: Da sprach er vor einer Demonstration mit mehreren tausend Menschen, nach deren Ende einige hundert kräftige Männer den noch immer von den Maidan-Protestlern besetzten Gouverneurspalast stürmten. Die Aktion endete damit, dass einige Dutzend Protestler auf dem Vorplatz auf die Knie gezwungen wurden, dass auf dem Verwaltungsgebäude die russische Flagge gehisst wurde – ein Warnschuss von Kernes an die neuen Machthaber: So geht es auch!

Der Charkower Journalist Surab Alasania glaubt, dass es inzwischen eine Stillhaltevereinbarung zwischen Kernes und den neuen Machthabern gibt: Kernes nutzt seine Autorität, um Konflikte wie in Donezk zu vermeiden, dafür gibt es keine Ermittlungsverfahren gegen ihn – zumindest bis zu den nächsten Bürgermeisterwahlen. Gründe für eine strafrechtliche Verfolgung gibt es genug, glaubt Alasania: Charkow sei über die letzten Jahre die „Geldwaschmaschine“ Janukowitschs gewesen, jede Woche seien mehrere Lieferwagen mit Bargeld nach Kiew gefahren, um das gewaschene Geld in der Präsidialverwaltung abzuliefern. Aber noch sitzt die neue Regierung in Kiew nicht fest genug im Sattel. „Kernes könnte einen Aufstand organisieren. Er ist populär im Volk“, sagt Alasania.

Ein Leben neben dem Protest: Frauentag feiern

Der gemeinsame Nenner der Vertreter des alten Regimes und der neuen Regierung in Kiew scheint vorerst die öffentliche Verurteilung separatistischer Kräfte zu sein: „Charkow ist eine Grenzstadt, aber Charkow ist eine ukrainische Stadt“, beteuert auch Kernes.

Seit vergangenem Sonntag sitzt einer der Kiewer Sieger als Gouverneur in Charkow, ein paar hundert Meter entfernt vom Bürgermeisteramt. Dass er und Kernes Freunde werden könnten, darf bezweifelt werden. An Igor Baluta selbst, einem eher farblosen, dicklichen Apparatschik, wäre nichts auszusetzen. Aber der Mann entstammt der Mannschaft von Arsen Awakow, dem Gouverneur von Charkow bis 2010, der jetzt zum Innenminister aufgestiegen und ein Intimfeind von Kernes und Dobkin ist. Awakow war am Sonntag nach Charkow gekommen, um Baluta vorzustellen – Kernes ignorierte die Amtseinführung, hat sich nicht einmal mit ihm getroffen seitdem. Kernes verschränkt die Arme und kneift die Augen zusammen, wenn er auf Baluta angesprochen wird: „Ich kenne diesen Menschen. Ich werde seine Arbeit nicht behindern. Aber wenn er auf Rache aus sein wollte, dann werden wir sehen ...“

Seine erste Prüfung hat Baluta bestanden. Am Mittwochabend hatten sich an die 2000 Demonstranten vor der Gebietsverwaltung versammelt, brüllten „Referendum“ und „Russland“. Baluta, geschützt von einigen Hundertschaften Polizei, lud kurzerhand einige Vertreter der Demonstranten zu Verhandlungen ein, erklärte ihnen, dass Referenden nicht in seiner Kompetenz lägen – und nahm den Demonstranten den Wind aus den Segeln.

Baluta hat am Freitag zu einer dreitägigen Demonstrationspause aufgerufen. Aber weder die „Euromaidan“-Demonstranten, die sich noch immer jeden Abend versammeln und neuerdings „Putin kaputt“ rufen, noch die Gegenseite wollen sich daran halten. Doch Ernsthaftes befürchtet niemand in der nächsten Zeit. Heute wird der Frauentag begangen, das heißt auch in Charkow: trinken, feiern und die Frauen mit Geschenken und Blumen überhäufen. In einem Irish Pub am Lenindenkmal ist schon am Freitagnachmittag kein nüchterner Mensch mehr zu finden. Es gibt in der Ukraine auch noch ein Leben jenseits von Putin, Krim und den Sorgen um die ukrainischen Nationalisten.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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