zum Hauptinhalt

Politik: Im Schatten des Booms

Auf dem Volkskongress verspricht Chinas Regierung den verarmten Bauern Hilfe

Manche der Mädchen in der Lihua-Textilfabrik waren erst 14 Jahre alt. Doch ihr Arbeitstag bestand schon aus zwölf Stunden. Bis Mitternacht hätten die Kinder und Jugendlichen in den dunklen Nähstuben sitzen müssen, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights in China. Als fünf der Mädchen Ende vergangenen Jahres im engen Schlafraum an einer Kohlenmonoxidvergiftung starben, ließ der Fabrikbesitzer die Körper einfach vergraben. Erst später stellte sich heraus, dass zwei der Mädchen noch gelebt hatten.

Die Tragödie in dem Landkreis Luancheng, nur wenige Autostunden von der Hauptstadt Peking entfernt in der Provinz Hebei, zeigt die Schattenseiten des chinesischen Wirtschaftsbooms. Die Bauern in der ländlichen Gegend sind so arm, dass sie ihre Kinder zur Arbeit schicken müssen. Mehr als hundert Kinder und Jugendliche schuften nach Informationen von Human Rights allein in diesem Landkreis in den Textilfabriken. Ein Leben ist dort nicht viel wert. Bei Unfällen oder tödlichen Unglücken zahlen die Fabrikbesitzer ein paar Tausend Yuan als Schweigegeld an die Hinterbliebenen – umgerechnet einige hundert Euro. Dann stellen sie aus dem Heer der Wanderarbeiter neue Arbeiter ein.

Chinas 800 Millionen Bauern und Landbewohner sind die Verlierer der Reformen. Der Wirtschaftsboom der vergangenen zwei Jahrzehnte fand vor allem in den Städten statt. Während in Peking, Shanghai und Guangzhou immer neue Wolkenkratzer gebaut wurden und sich viele Stadtbewohner heute ein eigenes Auto leisten können, leben die Menschen auf dem Land bis heute oft in bitterer Armut. 236 000 Dollar-Millionäre gab es vergangenes Jahr in China. Gleichzeitig mussten 29 Millionen Chinesen mit weniger als 70 Euro im Jahr auskommen. Weil Fleisch zu teuer ist, wird nur Reis und Gemüse gegessen. Weil die Schulgebühren zu teuer sind, bleiben die Mädchen oft zu Hause. Arbeit gibt es auf dem Land oft keine. Mehr als 100 Millionen Bauern sind seit Chinas Öffnung in die Städte gezogen, um als Billigarbeiter und Bedienstete anzuheuern. „China hat die größten wirtschaftlichen Ungleichheiten der Welt, und es wird schlimmer“, sagte der Wirtschaftsexperte Hu Angang von der Akademie der Wissenschaften. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sorgt für soziale Spannungen: Jede Woche kommt es im Land zu Unruhen und Aufständen. Entlassene Angestellte von Staatsfabriken demonstrieren, weil sie um ihre Pensionen betrogen wurden. Bauern sperren Straßen, weil sie die Steuern nicht mehr zahlen können. 40 Millionen Chinesen haben in den vergangenen Jahren ihre Landrechte und oft einzige Einnahmequelle verloren. Auf dem Volkskongress hat die Regierung nun einen verstärkten Kampf gegen die Armut angekündigt. Die Landwirtschaft sei eines der „schwachen Glieder“ des Landes, erklärte Premier Wen Jiabao in seinem Rechenschaftsbericht am Samstag. Bis 2006 sollen deshalb die Agrarsteuern abgeschafft werden. Bis 2007 will die Regierung außerdem für alle Kinder eine neunjährige Schulausbildung garantieren. Arme Familien sollen dazu von Schulgebühren und Bücherkosten freigestellt werden.

Umgerechnet eine Milliarde Euro will Wen ausgeben, um entlassene Arbeiter aus Staatsfabriken wieder in eine Beschäftigung zu bringen. Doch es ist zweifelhaft, ob Pekings Maßnahmen zur Armutsbekämpfung ausreichen. Viele Bauern sind schon heute offiziell von der Steuer befreit. Trotzdem werden sie von lokalen Kadern ausgebeutet, die ihnen immer neue „Gebühren“ abpressen. Chinas Wohlstandsgefälle ist das Ergebnis von Politik: Seit Ende der siebziger Jahre förderte Peking einseitig die Städte. In den dicht besiedelten Küstenprovinzen entstand nicht nur das industrielle Rückgrat für Chinas Aufschwung. Pekings KP-Führer sicherten sich auch politisch ab: Um die urbane Elite des Landes zufrieden zu stimmen, gingen 80 Prozent aller staatlichen Investitionen in die Städte. Chinas Bauern, die einst mit Mao die Volksrepublik erkämpft hatten, sind heute nur noch Bürger zweiter Klasse.

Harald Maass[Peking]

Zur Startseite