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Volk in Aufruhr. Tunesische Regierungsgegner demonstrieren in der Nähe des Parlamentsgebäudes in Tunis gegen das islamistische Regime. Auslöser für die Proteste war unter anderem die Ermordung des säkularen Oppositionspolitikers Mohamed Brahmi Ende Juli. Foto: dpa

© dpa

Politik: Im Strudel des Machtkampfs

In Tunesien wachsen die Spannungen zwischen dem säkularen und dem islamistischen Lager Tausende Demonstranten fordern den Rücktritt der Regierung.

Nach Ägypten droht nun auch Tunesien in den Strudel eines umfassenden Machtkampfs zwischen dem säkularen und dem islamistischen Lager zu geraten. In der Nacht zu Mittwoch forderten mehr als 40 000 Demonstranten im Parlamentsbezirk von Tunis den Rücktritt der von der Muslimbruderschaft Ennahda geführten Regierung. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, skandierten die Menschen mit den gleichen Protestparolen wie im Januar 2011 gegen Diktator Zine al Abidine Ben Ali. Die moderat-islamistische Ennahda jedoch schließt jeden Dialog mit der Opposition aus, solange diese als Vorbedingung von ihr den kompletten Machtverzicht fordert. Die Anhänger der Muslimbrüder gingen diese Woche ebenfalls zu Tausenden auf die Straße, ohne dass es bisher zu Gewalttaten kam. Anders als in Ägypten gehören in Tunesien der im Oktober 2011 gewählten Regierung neben den Islamisten auch zwei säkulare Parteien an, die sozialdemokratische Ettakatol sowie die sozialliberale Partei „Kongress für die Republik“.

Ausgelöst wurden die jüngsten Spannungen durch zwei Morde an säkularen Oppositionspolitikern innerhalb der vergangenen sechs Monate. Ende Juli wurde der linke Parlamentsabgeordnete Mohamed Brahmi vor seinem Haus mit elf Schüssen niedergestreckt, im Februar war der Linkspolitiker Chokri Belaid auf die gleiche Weise umgebracht worden. Bisher konnte die Polizei keinen der Schützen verhaften, erklärte aber, beide Morde seien mit der gleichen Waffe verübt worden, und die Täter stammten aus einer salafistischen Terrorzelle. Die Opposition wirft den zuständigen Ennahda-Ministern vor, das Vorgehen der Polizei gegen Extremisten sei nicht entschieden genug.

Der Präsident der verfassunggebenden Versammlung, der Ettakatol-Politiker Mustapha Ben Jaafar, erklärte, die Arbeit des Plenums werde so lange eingestellt, bis es „zum Wohle Tunesiens“ wieder Gespräche zwischen Opposition und Regierung gebe. Trotz der sehr ernsten Situation und statt auf mehr Einigkeit hinzuwirken, „schlagen die politischen Führer leider die entgegengesetzte Richtung ein zu mehr Zerstrittenheit und Mobilisierung“, kritisierte Ben Jaafar sichtlich bewegt in einer Fernsehansprache. Alle Seiten agierten so, als hätten sie die absolute Wahrheit für sich allein gepachtet. Auch die tunesische Presse beschwor die politische Klasse, zu Dialog und Kompromiss zurückzukehren. „Wir müssen weg von der Machtprobe auf den Plätzen hin zur Kraftprobe der Argumente“, schrieb die Zeitung „La Presse“. „Le Quotidien“ appellierte an die Muslimbrüder, die angespannte Lage mit „wirklichen Zugeständnissen“ zu entschärfen, um Tunesien zu retten.

Zuvor hatte bereits mehr als ein Viertel der 217 Abgeordneten erklärt, sie würden ihr Mandat aus Protest gegen die beiden politischen Morde vorerst ruhen lassen. Regierungschef Ali Larayedh, der der Ennahda angehört, lehnte einen Rücktritt der Regierung auf Druck der Straße ab, erklärte sich aber bereit, weitere Parteien in die Regierungskoalition aufzunehmen. Zudem schlug er vor, den Übergangsprozess zu beschleunigen, die Verfassung bis Ende August zu verabschieden sowie für den 17. Dezember Wahlen für das erste reguläre Parlament Tunesiens auszurufen – dem dritten Jahrestag der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid.

Ennahda-Chef Rached Ghannouchi erklärte, die Forderungen der Demonstranten nach einem kompletten Rücktritt der demokratisch gewählten Regierung seien unverhältnismäßig. „In demokratischen Gesellschaften werden Regierungen nicht durch Proteste gestürzt. Das gibt es nur in Diktaturen, dass Massendemonstrationen ein Regime zu Fall bringen“, sagte er und fügte hinzu, alle Versuche, nun auch in Tunesien ein „ägyptisches Szenario“ zu organisieren, seien zum Scheitern verurteilt.

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