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Politik: Im Windschatten des Ersten Weltkrieges

Im Osmanischen Reich starben zwischen 1915 und 1916 eine Million Armenier – Deutschland wollte nicht einschreiten

Am 20. Januar 1942 beschlossen 15 hochrangige Vertreter der deutschen Ministerialbürokratie und führende SS-Leuten in der Villa am Großen Wannsee in Berlin die Vernichtung der europäischen Juden. Das Protokoll dieser Konferenz aber liest sich wie eine Anordnung zur Abschiebung unliebsamer Asylanten. Nachdem die erhoffte Auswanderung nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, so das Protokoll, müssten nun weitere so genannte „Lösungsmöglichkeiten“ erörtert werden. Es ist sodann die Rede von allgemeinen „Evakuierungen“, ältere Juden sollten „überstellt“, andere „entfernt“ werden. Von Tötung, Erschießungen, Mord oder Massenmord war nirgendwo die Rede. „Das Verfahren ermöglichte eine partiell aktive, insgesamt aber passive Komplizenschaft mit der Regierung einzugehen“, schrieb der Historiker Götz Ali. „Mehr wurde nicht verlangt, mehr war in Deutschland nicht nötig.“

Gut ein Vierteljahrhundert zuvor hatte ebenfalls ein Völkermord stattgefunden, auch in ihn waren Deutsche verwickelt. Auch dort herrschte bei den Entscheidungsträgern die Verschleierungssprache. Es wurde abgeschoben, verschickt, ausgesiedelt, umgesiedelt. Das Wort Mord oder Völkermord sprach kein deutsche Spitzenpolitiker und Diplomat aus. Am Ende waren eine Million Armenier tot. In den Nächten vom 24. und 25 April 1915 hatte die türkische Polizei in Konstantinopel, wie Istanbul damals hieß, die armenische Elite verhaftet. Nicht nur Politiker und Publizisten, auch Ärzte und Künstler wurden ins Landesinnere deportiert und dort fast alle umgebracht. Seither gedenken die Armenier in aller Welt an diesem Tag des Beginns des ersten großen Völkermords im 20. Jahrhundert.

Die Jungtürken hatten auf den Verlust der europäischen Gebiete des Osmanischen Reichs mit einem extremen Nationalismus reagiert, dessen Hauptziel eine ethnisch reine Türkei war und das bedeutete die Vernichtung der bedeutenden Minderheiten. Der zweite Teil des armenischen Stammvolkes lebte im Kaukasus und damit unter russischer Herrschaft. Russland aber war Weltkriegsgegner von Deutschland und der verbündeten Türkei. So wurden sich Deutsche und Türken schnell einig, dass die Armenier aus den Grenzgebieten deportiert werden müssten. Doch was dann geschah, ging weit über militärische Sicherung hinaus. Die radikale Linie des Komitees für Einheit und Fortschritt hatte sich durchgesetzt und die Deportation aller Armenier beschlossen, wobei von Anfang an feststand, das die Deportationen nichts anderes waren als physische Liquidierung nahezu aller armenischen Männer. Die Frauen und Kinder wurden so lange durch zum Teil wasserlose Regionen getrieben, bis sie verhungerten oder verdursteten, abgesehen von den schöneren Frauen, die in Harems landeten, oder von den Kindern, die als Muslime aufwuchsen. Schändungen waren das Alltagsschicksal der Armenierinnen auf den Deportationsmärschen, Sklavenarbeit die Haupttätigkeit der gestohlenen Kinder. Aber es gab auch Türken, Kurden und Araber, die Armenier zu sich nahmen, um sie zu beschützen.

Die Deutschen akzeptierten die Deportation aller Armenier aus den östlichen Provinzen – dem jahrtausendealten Siedlungsland der Armenier – und ließen auch die Vernichtungswelle im Westen des Landes zu, mit Ausnahme von Konstantinopel. Und mit Ausnahme von Smyrna, wie Izmir damals hieß, wo der deutsche General Liman von Sanders die Deportationen verbot und sich damit durchsetzte. „Traurige Vorgänge“ nannte Außen-Staatssekretär Arthur Zimmermann den Völkermord gegenüber deutschen Parlamentariern. „Wir haben alles getan, was wir konnten. Das Äußerste, was uns übrig bliebe, wäre, das Bündnis mit der Türkei zu brechen. Sie werden verstehen, dass wir uns dazu unter keinen Umständen entschließen können.“ Damit vollstreckte er nur, was Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg intern festgelegt hatte. „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Wolfgang Gust

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