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Politik: Im Zweifel für das Leben des Angeklagten

Der Gouverneur von Illinois begnadigt alle 157 Todeskandidaten

Es klingt zunächst wie ein Märchen aus Posemuckel. Schließlich ist Illinois nur einer von fünfzig US-Bundesstaaten, und dessen Gouverneur George Ryan scheidet an diesem Montag aus dem Amt. Dennoch hat Ryan, ein konservativer Republikaner, jetzt landesweit Aufsehen erregt: Zunächst begnadigte er am Freitag vier zum Tode verurteilte Gefangene. An ihnen sei „offenkundig Unrecht“ begangen worden, sagte er. Die Männer wurden am selben Tag auf freien Fuß gesetzt. Sie gehören zu einer Gruppe von Insassen, die behaupten, ihre Geständnisse seien durch Gewaltanwendung erzwungen worden. Alle Verhöre fanden Ende der achtziger Jahre in derselben Polizeiwache in Chicago statt. Deren Leiter wurde 1993 entlassen, weil er beschuldigt worden war, einen Tatverdächtigen gefoltert zu haben.

Der nächste Paukenschlag folgte am Samstag: Ryan, der schon für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen war, begnadigte alle 157 zum Tode verurteilten Gefangenen. Die meisten Strafen wurden in lebenslange Haftstrafen umgewandelt. Die Befugnisse dafür hat der eigensinnige Kämpfer für die Gerechtigkeit. Laut Verfassung seines Bundesstaates muss er weder die Justiz noch das Parlament einschalten.

Spektakulär sind die Begnadigungen nicht zuletzt wegen ihrer Signalwirkung. Trotz seiner konservativen Grundhaltung hat sich Ryan zu einem der profiliertesten Kritiker der Todesstrafe entwickelt. Im Januar 2000 ordnete er, als erster Gouverneur, eine unbefristete Aussetzung aller Hinrichtungen in seinem Bundesstaat an und setzte damit eine landesweite Kampagne gegen die Todesstrafe in Gang. Kurz zuvor waren mehrere unschuldig Verurteilte durch nachträgliche DNA-Proben entlastet und aus den Todeszellen entlassen worden. „Dieses System hat bewiesen, dass es höchst ungenau, ungerecht und manchmal rassistisch ist“, sagte Ryan am Freitag. „Außerdem ist es unfähig, die Schuldigen von den Unschuldigen zu trennen.“

Seit dem Jahre 2000, als in Illinois das erste Moratorium verhängt wurde, ist viel Bewegung in die Todesstrafen-Debatte gekommen. Andere Bundesstaaten, wie Maryland, folgten dem Beispiel von Illinois. Der Oberste US-Gerichtshof erließ ein Grundsatzurteil gegen die Hinrichtung von geistig Behinderten. In diesem Gremium wächst auch der Widerstand gegen die Hinrichtung von Menschen, die zur Tatzeit minderjährig waren.

Das zunehmende Unbehagen zeigt auch Wirkung. Zum ersten Mal seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 in den USA ist die Zahl derer, die in der Todeszelle sitzen, rückläufig. Richter und Geschworene sind erheblich vorsichtiger mit ihrem Verdikt geworden. Von 1976 bis 2002 wurden in den USA 749 der 6754 Todeskandidaten hingerichtet. Mehr als hundert mutmaßliche Delinquenten mussten in jüngster Zeit freigelassen werden, weil durch DNA-Tests ihre Unschuld bewiesen werden konnte. In 38 der 50 Bundesstaaten ist die Todesstrafe erlaubt. Über die Hälfte aller Hinrichtungen findet jedoch in nur vier Staaten statt: Texas, Kalifornien, Florida und North Carolina.

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