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„Imagine there's no heaven“: Was wäre für Frieden und Versöhnung notwendig?

Ein großer, politischer Traum: Frieden und Versöhnung - auch zwischen den Religionen. Was es dafür braucht.

Von Caroline Fetscher

Rückkehr der Lebensfreude

Abends tanzen sie wieder. Es gibt wieder Partys, Afrobeats, westliche Sounds, es gibt wieder Bier. Die Jugendlichen in Maiduguri, der Stadt im Norden Nigerias, wo 2009 der Terror der Boko Haram begann, gehen heute wieder aus. Ihre Feiern organisieren sie privat. Noch wechseln sie Räume, wenn Orte zu bekannt werden. Aber seit die Boko Haram aus der Stadt gedrängt wurde, kehrt zurück, was die Islamisten auslöschen wollten und wofür Maiduguri berühmt war: Lebensfreude.

„Boko Haram“ bedeutet so viel wie „books are haram“ also: Bücher sind unrein, Bildung ist gottlos. Die Organisation hatte Schulmädchen verschleppt, liberale Imame und Lehrer getötet, Musik und Alkohol verboten. Jetzt debattieren sie an der Uni, wo Moslems wie Christen studieren, sogar über Liebe, Sex und Feminismus. 2017 haben die Terrormilizen noch achtmal Attacken auf die Universität Maiduguri verübt. Die Gefahr ebbt nur allmählich ab, während Vernunft sich durchsetzt gegen religiösen Fanatismus. Nur ohne ihn hat demokratische Freiheit eine Chance, ganz gleich wo.

Eine Vision für Israel

Tausende Kilometer von Nigeria entfernt arbeiten jüdische und muslimische Männer und Frauen in Israel für die Lösung des bitteren Konflikts zwischen Juden und Muslimen. Vorbild ihrer Initiative „Zwei Staaten – ein Heimatland“ ist die Europäische Union. Sie entwerfen eine Konföderation von Israel und Palästina, mit offenen Grenzen, Freizügigkeit und Bürgerrechten für alle und Jerusalem als gemeinsam verwalteter Hauptstadt. Selbst Siedler aus dem Westjordanland zählen zu den 5000 Mitgliedern der Initiative. Unter ihnen sind Akademiker und Landwirte, Studierende, Anwälte und einstige Militärs, Linke wie Rechte. „Zukunft kann es nur gemeinsam geben“, sagte der Autor Eliaz Cohen neulich im Deutschlandfunk. Die Vision sieht vor, dass alle in allen Landesteilen leben können, auch Palästinenser in dem Teil, der Israel heißt, und Juden in dem, der Palästina heißt. Einer der Mitstreiter ist Awni al Mashni, einst Fatah-Mitbegründer, ein anderer das PLO-Mitglied Muhammad Beiruti. Sie alle haben es satt, Spielball ihrer Regierungen zu sein. Während die radikalislamische Hamas Israel, dem Zufluchtsland der Holocaust-Überlebenden, das Existenzrecht abspricht, erklärt hier der palästinensische Bauer Chaled Abu Awad: „Wir alle gehören in dieses Land, aus historischen Gründen.“ Und Rabbi Shlomo Riskin hofft: „Diese Vision kann der Durchbruch sein.“ Am Ende eines Dauerkonflikts soll friedliche Vielfalt der Sieger sein. So könnte es gehen.

Religion als Waffe?

2017 haben Medien weltweit über „religiöse Konflikte“ berichtet, die in der Regel politische Interessen verschleiern und überwölben. Nirgends leuchten die Schilder religiöser Propaganda greller als im Nahen Osten, wo eine Agglomeration von Sekten im Namen „des Islam“ um Vorherrschaft und Pfründen konkurriert – Sunniten, Schiiten, Alewiten, Wahhabiten, Salafisten samt Subgruppen und Terrorstaatlern bekämpfen einander ideologisch oder militärisch, nicht nur in den Bürgerkriegen in Syrien, im Irak oder im Jemen.

Aus Frankreich, wo der Antisemitismus, wie in ganz Europa, besonders unter Muslimen grassiert, sind in den vergangenen Jahren 40000 Juden ausgewandert, am Flughafen von Tel Aviv hören Reisende immer öfter Französisch. In Ägypten werden koptische Christen Opfer islamistischer Anschläge. In Indien überfallen „Hinduistische Jugendbrigaden“ interreligiöse Paare aus Moslems und Hindus. In Myanmar wird die muslimische Minderheit der Rohingya vertrieben und ermordet. Auch buddhistische Mönche zogen schon in ihren roten Gewändern gegen Rohingya durch die Straßen. Für ungeheilte Wunden, Verwerfungen aus der Zeit der Militärdiktatur, sucht sich Myanmars Mehrheit ihre Sündenböcke bei einer Minderheit und nutzt deren Religion als Waffe. Donald Trump buhlt um die Gunst der Evangelikalen oder Katholiken, wenn er Muslimen die Einreise in die USA verbieten will. Russlands autoritär regierender Präsident Wladimir Putin posiert neben orthodoxen Popen, der türkische Präsident Erdogan inszeniert sich als frommen, neo-osmanischen Sultan. Analysen wie Vamik Volkans „Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors“ von 2005, oder Sudhir Kakars „Die Gewalt der Frommen“ von 1997 lassen die jüngsten Entwicklungen wenig überraschend scheinen.

„Imagine there’s no heaven“, sang John Lennon 1971, im Kalten Krieg: Stell dir vor, es gäbe keine Staaten, keine Religion, und alle teilten sich friedlich die Erde. Es war der Sound der Hippie-Utopie, die trennende Konfessionen und Ideologien einfach über Bord werfen wollte. Bekanntlich endete der Kalte Krieg anders, nämlich durch den Kollaps der Sowjetunion, woraufhin Denker wie Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ proklamierten. Hatte nicht das Modell Demokratie gesiegt, die freie Sphäre des Handels und Verhandelns?

Ära der Unsicherheit

An sich ja, doch die Auflösung der übersichtlich in Kapitalismus und Kommunismus sortierten Welt brachte mit ihren Freiheiten auch Risiken, rücksichtslose Deregulierung und Massenmobilität. Rasanter Wandel sozialer Strukturen und digitaler Techniken prägen die Ära der Unsicherheit, alles Vertraute kann sich plötzlich auflösen im Ozean der Möglichkeiten. Großgruppen geraten dabei leicht in den Sog der Fantasie eines Früher, als alles besser war – und Götter Garanten der Sicherheit. Zwar werden die Kirchen leerer, doch 63 Prozent der Deutschen sehen laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage das Land „vom Christentum geprägt“. 2012 waren es nur 48 Prozent. 51 Prozent glauben an Wunder – fast 20 Prozent mehr als 1986. Retroaktiv gebastelte Traditionen, Ideologien im Trachtenlook verheißen Halt, Heimat, Nation und „alte“ Ordnung. Imagine there’s no globalisation!

So erklärt sich auch die arabische Welt verstärkt zur muslimischen und lastet ihren Reformstau westlichem Imperialismus an. Doch als John Lennon „Imagine“ sang, liefen Studentinnen in Kairo oder Kabul mit offenem Haar und kurzen Röcken über den Campus. Der Rückschritt ist hausgemacht, Regierungen fördern Frömmigkeit und dulden deren radikale Exzesse, was nicht mit Armut zu tun haben muss. Selbst steinreiche Ölscheichtümer vernebeln sich den Blick auf die realen Ursachen der Stagnation mit dem Festklammern an patriarchaler Clanwirtschaft und der dazu passenden Regression in voraufgeklärte Koranauslegung.

Polytheismus: Im All und überall Götter

Das Geflecht aus Machtinteresse und Religion hat seine primären Ursprüngen im Kultischen, aus Ängsten und Wünschen, die sich bis heute instrumentalisieren lassen, solange Aufklärung ungefestigt bleibt. In ihrer Frühzeit suchte die Gattung Mensch Erklärungen für Phänomene ihrer Umwelt, für Gewitter, Fluten, Seuchen oder Missernten. Sie bezog es auf sich: Da tobte überwältigender Zorn, wie die Wut von Erwachsenen, als man ohnmächtig und klein war. So schob man das Unerträgliche vom Innen ins Außen und erfand Berggötter, Wettergötter, Geister, Dämonen. Wenigstens ließ es sich versuchen, sie durch Opfer und Anbetung zu bannen, zu kontrollieren, der Ohnmacht zu entrinnen, indem man der Macht diente.

Kultisch gedeutet haben unsere Vorfahren auch stellare Konstellationen, Sonnen- und Mondfinsternisse, die sich als Zeichen für eine göttliche Ordnung der Dinge lesen ließen, wider die Angst vor dem Ausgesetztsein im rätselhaften Kosmos. In Krisenzeiten wächst noch jetzt die Attraktivität von Horoskop-Hokuspokus, beflügelt von der rührend egozentrischen Idee, die kosmische Ordnung bestimme mein individuelles Dasein.

MONOTHEISMUS: REVOLUTION DES PATRIARCHALEN GOTTES

Aus dem polytheistischen Universum der Frühzeit kristallisierte sich eine Götterballung heraus: Die vielen wurden zu einem monotheistischen Gott. Je stärker sich Großgruppen ausdifferenzierten, desto mehr Macht vereinte ein Patriarch an der Spitze der Hierarchie auf sich, und parallel entstand jener Gott, der keinen anderen neben sich duldete. Schon in der Antike entwickelte Aristoteles die Idee vom „Unbewegten Beweger“, der in sich ruhenden Quelle allen Daseins. Als Vorbild dieser Denkfigur erkennt der Religionsphilosoph Klaus Heinrich den antiken Sklavenhalter: Selber unbewegt sitzt er da und bewegt die anderen, die tun, was er befiehlt.

Der „Allmächtige“ lieferte ein Modell für die Rolle des Alleinherrschers „von Gottes Gnaden“, ob Sonnenkönig, Kaiser oder Kalif. Der Bevölkerung suggeriert patriarchale Hierarchie Segen und Schutz durch eine höchste Instanz. Väterlich gütiges Lächeln wird beschworen, wo immer Pfarrer die schöne Formel sprechen: „Der Herr segne und behüte dich, er lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“ Doch der patriarchale Gott war im Kern janusköpfig, mal belohnend, mal bestrafend. Ohne Anlass nahm der Gott des Alten Testaments Abels Opfer huldvoll an und verschmähte das von Kain – wie ein unberechenbarer Vater, um dessen Liebe die Kinder wetteifern.

Den Mächtigen gestatten Pakte mit dem Allmächtigen jede Willkür, Widersacher lassen sich als „Gottlose“ verfolgen. Aber auch Aufständische griffen nach Gottes Hand, und 1525 rief der Reformator Thomas Müntzer den Bauernkriegern zu: „Es will Gott nicht, dass ihr Fried mit den gottlosen Fürsten machet.“ Und Immanuel Kant verlangte 1775: „Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“ Karl Marx schließlich hatte Gott komplett dekonstruiert: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Religion sei „der Seufzer der bedrängten Kreatur“, sie sei „das Opium des Volks“. Erst jenseits des Jenseits gebe es Recht und Glück in der Gesellschaft.

Frieden ist nur mit Demokratie zu haben

Ob Opium oder wahrer Trost, Religionen und Kulte existieren fort, in allen Systemen. Für den Frieden zwischen den Konfessionen, für deren Kompatibilität mit Demokratie benötigen sie historisches Bewusstsein ihrer selbst, das Anerkennen dessen, dass niemand ein Monopol auf metaphysische Wahrheit haben kann. Denn für alle Erdenbewohner gilt die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die klarste Schrift im säkularen Tempel der Menschheit.

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