zum Hauptinhalt
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verlässt die Pressekonferenz nach dem Impfgipfel im Kanzleramt.

© Hannibal Hanschke/Reuters-Pool/dpa

Impfgipfel im Kanzleramt: Auch Merkel hat die Lage falsch eingeschätzt

Keine Termine, überlastete Hotlines: Bis Ostern bleibt es beim Impfstoff knapp. Die Fehleranalyse ist komplex – es muss jetzt besser werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Georg Ismar

Ja, die Lage ist ernüchternd, aber jetzt gilt es, das Beste aus dem noch wochenlang knappen Stoff zu machen, Bürgern mehr Klarheit für ihre Impftermine zu geben, keine falschen Versprechen mehr. Das Impfen ist der Weg aus der Pandemie, betont die Kanzlerin in fast jeder Rede, gerne zieht sie das i ganz lang, wenn sie vom "Riesenerfolg" spricht, dass jetzt schon gleich mehrere sehr gute Impfstoffe verfügbar sind.

Doch der Weg ist bisher so holprig, dass Angela Merkel nach über fünf Stunden Beratungen im Kanzleramt immer wieder die Worte Vertrauen und Verlässlichkeit betonen musste.

Sie selbst hat auch eine Mitschuld bei den Versäumnissen im EU-Bestellprozess - was sie aber nicht offen einräumt.

Vielen Bürgern platzte zuletzt der Kragen: zusammenbrechende Hotlines, keine Termine in den Impfzentren, da es kaum verbindliche Informationen zu Liefermengen gibt.

Die Politik stritt wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen – und was macht man dann, um Tatkraft zu simulieren? Einen Gipfel. Dass sich nicht mehr Impfstoff im Kanzleramt zaubern lässt, war von vornherein klar. Zumindest sind jetzt alle, auch die Ministerpräsidenten, auf dem gleichen Stand. 

Und alle haben im Gespräch mit den Herstellern verstanden, dass man im Kampf gegen die Virusmutationen Grenzen auf keinen Fall schließen sollte, da sonst auch die komplexen Lieferketten für den Impfstoff zusammenbrechen.

Auch wenn sich mögliche 323,5 Millionen Impfdosen bis Jahresende viel anhören, bis mindestens Ostern wird die Knappheit akut bleiben. Dabei hilft im Kampf gegen die Mutationen jede Spritze.

Der Impfärger hat aber auch sein Gutes

Die angespannte Lage wird auch Folgen haben für den Lockdown, erstmal könnten Mitte Februar höchstens Schul- und Kitaöffnungen in den Fokus rücken und danach wegen der fragilen Phase nur sehr vorsichtige Öffnungsschritte erfolgen.

Wichtig ist aber, dass laut Kanzlerin auch bei einer Nichtzulassung der Impfstoffe von Curevac und Johnson & Johnson bis zum 21. September jeder Bürger ein Impfangebot erhalten haben soll, ausgenommen neun Millionen Kinder. Daran wird sich Merkel messen lassen, fünf Tage vor der Bundestagswahl soll also jeder, der will, mindestens die erste Spritze bekommen haben. Und die Hersteller sichern immer mindestens für die nächsten zwei bis drei Wochen die Liefermengen zu, damit lässt sich Einladungssystem zu Impfungen berechenbarer planen.

Viel mehr ist erstmal nicht drin. Die Bürger wollen Lösungen, wissen, wann sie dran sind. Es läuft jedenfalls nicht nach Plan, wie die EU-Gesundheits-Kommissarin Stella Kyriakides bei der Impfschalte mit der Kanzlerin weismachen wollte.

[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]

Der Impfärger hat aber auch sein Gutes bewirkt, ebenso das Theater um den schroffen SPD-Fragenkatalog an Gesundheitsminister Jens Spahn. Der Druck von allen Seiten wirkt. Biontech und Astrazeneca wollen mehr liefern, gerade Biontech zeigt sich kooperativ, fährt im Rekordtempo wie in Marburg umgerüstete Fertigungsanlagen hoch.

Die Idee von Markus Söder, dass der Staat in die Produktion einsteigen könnte, ist dagegen Getöse ohne Chance auf Umsetzung. Die weitere Idee des bayerischen Ministerpräsidenten, auch die Zulassung der russischen und chinesischen Vakzine zu prüfen, zu denen bisher kaum Daten vorliegen, dient ebenfalls dem Ziel: Die anderen Unternehmen dazu ermuntern, alle Register zu ziehen, Kooperationen für ein Hochfahren der Produktion einzugehen. Und es zeichnet sich ab: Ab dem zweiten Quartal wird es schrittweise genug Stoff geben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Fehler wurden gemacht

Ja, es sind Fehler passiert. Kanzlerin Angela Merkel, deren Management in einem milderen Licht gesehen wird, als es in diesem Fall gerechtfertigt ist, hätte in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit Gesundheitsminister Spahn viel mehr Einfluss nehmen müssen auf den (absolut richtigen) gemeinsamen Bestellprozess der EU-Kommission. Warum hat es nicht schon im Sommer einen EU-Impfgipfel gegeben, um dort alles in die Waagschale für eine Bestelloffensive zu werfen?

Ja, Haftungsfragen der Hersteller, Preisfragen, die Franzosen, die gerne ihren Sanofi-Impfstoff (der vielleicht gar nicht zugelassen wird) bevorzugen wollten - bei 27 EU-Staaten ist der Prozess komplex, weshalb die Fehleranalyse einfache Antworten verbietet.

Aber Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte schon als Verteidigungsministerin ihre Probleme mit einem zielführenden Beschaffungswesen. Die SPD nimmt sie zunehmend ins Visier, auch in Brüssel wächst die Kritik, hat sie sich von Unternehmen wie Astrazeneca an der Nase herumführen lassen? Verträge wie mit Astrazeneca wurden jedenfalls nicht wasserdicht genug formuliert; ausgerechnet beim einzigen Weg aus der Krise, den Impfstoffen, wurde von den EU-Staaten zu spät bestellt und zu wenig. Es wurde an der komplett falschen Stelle gespart gespart. Ursula von der Leyen hatte den EU-Bestellprozess im Zusammenspiel mit Merkel an sich gezogen, nun haftet sie auch mit für die Versäumnisse. Ein Kollateralschaden ist auch, dass Boris Johnson dank des schnelleren Impfens in Großbritannien den Brexit als goldrichtig darstellen kann.

Dem Landrat von Heinsberg reicht es

Stephan Pusch, der Landrat von Heinsberg, wo es vor einem Jahr den bundesweit ersten großen Corona-Ausbruch nach einer Karnevalsfeier gab, hat es in einem Video auf den Punkt gebracht. Die EU-Kommission sei angesichts der weltweiten Impfstoff-Konkurrenz viel zu naiv vorgegangen. Richtig in Fahrt sagte er: "Dass hätte jeder Landwirt im Kreis Heinsberg besser verhandelt."

Und bei den Hotlines würden verzweifelte Menschen, die große Angst vor dem Virus haben, anrufen und bitterlich weinen. Auch an NRW-Ministerpräsident Armin Laschet gerichtet sagte Pusch, das ganze Programm zur Vergabe der Termine sei „scheiße programmiert“. Hier gehe es halt nicht um die Vergabe von Theaterkarten, sondern um Leben.

Noch recht leer, da Impfstoff fehlt: Impfzentrum im niedersächsischen Lingen
Noch recht leer, da Impfstoff fehlt: Impfzentrum im niedersächsischen Lingen

© dpa/Friso Gentsch

Ja, hinterher sind alle schlauer, ist in Berlin jetzt wieder zu hören Aber das war auch schon die Antwort auf den Mangel an Masken in der ersten Welle der Pandemie. Fakt ist: Höhere EU-Bestellmengen hätten den Unternehmen mehr Planungssicherheit gegeben, also wäre von vornherein mehr produziert worden. Und die Knappheit jetzt nicht so arg, auch wenn immer klar war, dass es am Anfang Probleme geben wird.

Ja, es ist ein Wunder, dass schon gleich mehrere funktionierende Impfstoffe vorliegen – und sicher hätte es Kritik gegeben, wenn Milliarden für einen am Ende nicht zugelassenen Impfstoff in den Sand gesetzt worden wären. Aber Gipfel hin oder her: Es wird bis in den April hinein mit Knappheiten zu rechnen und zu leben sein. Dann wird es Schritt für Schritt besser.

Zeitdruck wegen der Mutationen

Es gilt jetzt, nicht die Nerven zu verlieren, gemeinsam statt gegeneinander zu handeln - es ist noch kein Wahlkampf. Und bei den Lockerungen des Lockdowns lieber zu vorsichtig zu sein. Das bedeutet: Wenn Kitas und Grundschulen wieder öffnen, sollte das abgesichert sein durch massenhafte Schnelltests. Ein echtes Ärgernis bleibt, dass Wort und Tat im Krisenmanagement auseinanderklaffen, gerade bei dem Versuch, das Einschleppen der Virusmutationen von außen zu verhindern. Zu Beginn der Pandemie wurde an Flughäfen kaum kontrolliert, ebenso standen die Quarantänereglungen im Sommer meist nur auf dem Papier, das Virus kam mit aller Wucht zurück.

Die mit markigen Worten von Kanzlerin und Innenminister Horst Seehofer angekündigten Einreisestopps aus Mutationsgebieten sind mit Ausnahmen übersät. Und erst seit Januar wird endlich viel mehr kontrolliert. Und siehe da: Allein vom 24. bis 29. Januar 2021 stellte die Bundespolizei bei Flügen aus Hochinzidenz- sowie Virusmutationsgebieten 602 unberechtigte Beförderungen der Airlines fest.

Es ist wie so oft mit den Beschlüssen: In der Theorie streng, gibt es in der Praxis zum Nachteil der großen Mehrheit, die sich an die Regeln hält, ein Durchsetzungsproblem.

Der Weg aus dem Lockdown und später der Pandemie hängt letztlich auch davon ab, dass die Impfstoffproduktion nicht stockt. Und ganz wichtig: von der Disziplin der Bürger.  

Zur Startseite