zum Hauptinhalt
Mit Luthers Worten. Ich konnte nicht anders, sagt Manfred Stolpe über seine Verstrickung mit der Staatssicherheit.

© dpa

In der Pflicht: Wie Manfred Stolpe mit der Stasi-Debatte umgeht

Die Stasi und er – schon immer eine verdächtige Beziehung. Manfred Stolpe steht im Zentrum einer heftigen Debatte. Ihm wirft man vor, in Brandenburg eine "kleine DDR" geschaffen zu haben.

Von Sandra Dassler

Es geht wirklich nicht. Manfred Stolpe kann jetzt über nichts mehr reden. Nicht über die brandenburgische Enquete-Kommission und die neuen alten Stasi- Vorwürfe gegen ihn. Er hat einen wichtigen Termin in Potsdam. „Morgen ist mehr Zeit“, sagt er und läuft über das weitläufige Gelände des Diakonissenhauses in Teltow zu seinem Auto. Findet den Schlüssel nicht, merkt, dass er die falsche Jacke erwischt hat, ärgert sich, eilt zurück. Fünf Minuten später kann er endlich losfahren. „Es ist wirklich ein wichtiger Termin“, sagt er entschuldigend.

Zwei Stunden hat Stolpe zuvor hinter einem Rednerpult verbracht. Und kein gutes Haar an der DDR gelassen. Die habe die Kirche als Feind betrachtet, „als aussterbendes Relikt, als Fünfte Kolonne gegen den Staat“. Vor ihm saßen drei Dutzend Schwestern des Diakonissenhauses Teltow. Pfarrer Matthias Blume hat Stolpe als ehemaligen Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche, ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Bundesverkehrsminister begrüßt. Für die Diakonissen ist er aber nur „Bruder Stolpe“. Die meisten von ihnen sind älter als der 75-Jährige.

Der hält an diesem Tag einen Vortrag über das „Erbe der Diakonie“, aber eigentlich geht es um die Geschichte der Kirche im Sozialismus. Natürlich könnte es auch um sein politisches Erbe gehen. Denn seit die Gutachter der Enquete-Kommission entgegen einem früheren Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ergebnis kamen, dass Stolpe ein IM, ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war und sein Amt als Ministerpräsident hätte niederlegen sollen, steht auch seine Lebensleistung auf dem Spiel. Er habe durch seine eigene Stasi-Vergangenheit der Aufarbeitung dieses Kapitels DDR- Geschichte nach 1990 im Weg gestanden, heißt es. Aber darum geht es nicht, jedenfalls nicht hier. Stolpe erzählt den Diakonissen, wie in den 50er Jahren staatliche Notare in die Betriebe kamen, um die Beschäftigten zum sofortigen Kirchenaustritt zu bewegen, er spricht von Enteignungen, Verfolgungen und Benachteiligungen der Christen.

Ist das der Mann, dem man vorwirft, in Brandenburg eine „kleine DDR“ geschaffen zu haben? Wie geht Manfred Stolpe mit den Anschuldigungen um? Er ist längst im Ruhestand, kämpft – wie seine Frau – seit Jahren gegen den Krebs. Zieht er sich zurück? Ist er verbittert?

„Nur betroffen und traurig“, sagt Stolpe am Rande seines Vortrags in Teltow und schiebt hinterher, was er oft sagt dieser Tage: „Das vergiftet das Klima im Land. Ich versuche nach wie vor, für eine faire Aufarbeitung zu werben, aber das ist angesichts der bislang von den Gutachtern betriebenen Schwarz-Weiß-Malerei sehr schwer.“

Bei den Diakonissen hat Stolpe, der von 1959 bis 1989 in verschiedenen Funktionen für die Evangelische Kirche der DDR arbeitete, ein Heimspiel. Sie nicken, als er erzählt, wie Christen in der DDR bekämpft, verhöhnt und bestenfalls benutzt wurden für Pflegeaufgaben, bei denen sich der Staat überfordert fühlte. Die Schwestern, von denen viele ihre graue Arbeitskleidung gegen die blaue Festtagstracht getauscht haben, lauschen aufmerksam. Sie seufzen. Ihre mit vier Haarklemmen befestigten weißen Häubchen zittern auf den ergrauten Häuptern, als Stolpe über Oskar Brüsewitz erzählt. Der Pfarrer hatte sich im August 1976 im anhaltinischen Zeitz aus Protest gegen die DDR-Kirchenpolitik öffentlich verbrannt. Glaubt man den Akten, hatte Stolpe damals vor allem Sorge, die „Westpresse könne Brüsewitz’ Freitod auf ihre Weise ausnutzen“, er empfahl „Solidarität mit dem Staat“.

Seite 2: Stillstand, Resignation, Aufgeben würde sich Stolpe nie erlauben.

Aber die Diakonissen fällen ihr Urteil nicht nach Aktenlage. Sie kennen die DDR aus eigener Erfahrung. „Er musste mit den Wölfen heulen, wenn er etwas erreichen wollte“, sagt eine Schwester. „Aber es ging ihm immer um Menschen.“

Hinter dem Rednerpult wirkt Manfred Stolpe vital wie eh und je. Kraftvolle Gesten unterstreichen die sonore Stimme, er ballt die Fäuste, die Augen blitzen, die linke Hand wandert auf der Suche nach einem Taschentuch routiniert in die rechte Jackett-Innentasche.

Als er das Rednerpult verlässt, scheint er auch seine Energie zu verlieren. Er senkt die Schultern und den Kopf, schlurft mehr, als er geht, horcht in sich hinein. Als ihm die Diakonissen einen Strauß aus dem hauseigenen Kräutergarten überreichen, überspielt er die Rührung mit einem Scherz: „Das riecht besser als Akten.“ Das Lachen der Schwestern tut ihm gut, auch wenn er nicht mitlacht. „Das hier ist so etwas wie meine geistliche Heimat“, vertraut er den alten Frauen an, schluckt und fährt mit heiserer Stimme fort: „Ich hoffe, dass ich es noch lange genießen kann.“

Im April 2008 hatte ein Arzt Manfred Stolpe prognostiziert, dass er mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit noch fünf Jahre zu leben hätte. Stolpe war vorsichtiger, gab sich selbst nur eine „Restzeit“ von 420 Tagen. Die ist längst überschritten, aber das Gefühl, etwas zum letzten Mal zu sehen, riechen, schmecken oder zu fühlen, das ist geblieben.

Die Stolpes haben bei Sandra Maischberger offen über ihre Krebskrankheiten gesprochen, auch ein Buch darüber geschrieben. Ingrid Stolpe, die 2008 an Brustkrebs erkrankte, müsse sich immer noch einer Chemotherapie unterziehen, aber ansonsten gehe es ihr gut, sagt ihr Mann, als eine Diakonissin nachfragt.

Bei ihm selbst wurde 2004 Darmkrebs diagnostiziert. Da war er Bundesverkehrsminister, stand wegen der Lkw-Maut in der Kritik und erzählte deshalb nur einigen Vertrauten von der Operation. Danach arbeitete er sofort weiter. Als sich durch die Chemotherapie seine Haut an den Händen ablöste, trug Stolpe weiße Zwirnhandschuhe und ließ seine Sekretärin im Glauben, dass dies wegen der staubigen Akten sei. Nach der Bundestagswahl 2005 schied er aus dem Amt, drei Jahre später musste er wegen Metastasen in der Leber erneut operiert werden.

Momentan gehe es ihm gut, sagt er. Wie zu seiner Zeit als Berufspolitiker steht Stolpe um 6 Uhr auf und hört Nachrichten. Das Frühstück mit seiner Frau ist ein Muss, und spätestens um 8 Uhr sitzt er am Schreibtisch, beantwortet Briefe, bereitet Reden vor. Damit er täglich vier Stunden arbeiten kann, legt er die immer noch zahlreichen öffentlichen Termine lieber auf die Nachmittage.

Am Tag nach dem Besuch bei den Diakonissen ist er in Berlin-Wilmersdorf, wo der Verein Westwind im Schoeler- Schlösschen zu einer Fotoausstellung und einem Podiumsgespräch einlädt. Das Schoeler-Schlösschen soll künftig die 8000 Bände umfassende Büchersammlung des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau beherbergen, mit dem Stolpe eng befreundet war. Für den Innenausbau fehlen noch Geld- und Sachspenden, die Veranstaltung dient auch der Werbung dafür. Anlass ist der 20. Jahrestag des Verwaltungsabkommens zwischen Brandenburg und Nordrhein-Westfalen.

Waren die damals von West nach Ost gewechselten Beamten Besserwessis oder Aufbauhelfer? Darüber soll Manfred Stolpe mit dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Schnoor diskutieren. Es wird eher ein launiger Plausch zwischen zwei alten Genossen. Versöhnlich natürlich. Und mit vielen Geschichten über die ersten Jahre: als Telefone fehlten und die Büros in den vormaligen Räten der Bezirke noch verwanzt waren.

An diesem Abend hat Stolpe Zeit. Er gibt Autogramme, erzählt von seinem Kampf für den Erhalt brandenburgischer Herrenhäuser und für bessere Beziehungen zu Osteuropa. „Da muss ich schon aufpassen, dass meine beiden Enkel und die häuslichen Pflichten nicht zu kurz kommen“, sagt er: „Ich habe versprochen, den Staubsauger zu reparieren und eine Gardinenstange anzudübeln.“ Dieser Mann kann nicht anders. Stillstand, Resignation, Aufgeben würde er sich nie erlauben. Und wahrscheinlich nicht verkraften.

Seite 3: "Ich habe einen Fehler gemacht"

Stolpes 75. Geburtstag im Mai wurde groß gefeiert. Im eigens gedruckten Buch für den „Mutmacher Manfred Stolpe“ stehen lobende Beiträge von Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Frank-Walter Steinmeier oder Egon Bahr, auch von Eberhard Diepgen, Jörg Schönbohm oder Altbischof Wolfgang Huber.

Seine Kritiker gehen hingegen härter als je zuvor mit ihm ins Gericht. Seine innere Überzeugung, im Dienste der Kirche gearbeitet zu haben, sei nach den Kriterien der Stasi-Überprüfungen nicht relevant, sagen die Gutachter der Enquete- Kommission. Stolpe schüttelt den Kopf. „Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt – in der DDR und auch danach.“

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2005 entschieden, dass Stolpe nicht als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter bezeichnet werden dürfe. Er selbst hatte schon Anfang der 90er Jahre eingeräumt, während seiner Arbeit als führender Kirchenjurist in der DDR Kontakte zum DDR-Geheimdienst gehalten zu haben. Von seiner Registrierung als Inoffizieller Mitarbeiter „IM Sekretär“ habe er aber erst 1989 erfahren. Stolpe betonte stets, nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben und niemandem geschadet zu haben. Zu diesem Schluss waren auch Untersuchungsausschüsse des Landtages und der Kirche gekommen.

„Ich habe aber einen Fehler gemacht“, gibt Stolpe jetzt zu: „Ich hätte mich schon Anfang der 90er für ein Gremium zur Aufarbeitung einsetzen müssen, aber damals habe ich andere Schwerpunkte gesehen, die hereinbrechende Massenarbeitslosigkeit zum Beispiel.“ Es sei ihm nie um Rache, sondern um Integration gegangen. Wie der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu glaubt Stolpe, dass die Wahrheit auf den Tisch gehöre, dass Menschen aber auch eine zweite Chance verdienten.

Auch wenn er mit einer „Mischung aus Milde und Verachtung“ auf die seiner Ansicht nach instrumentalisierte Geschichtsaufarbeitung schaue – es belaste ihn doch. „Die nachwachsende Generation sollte nicht alles nur aus Büchern erfahren. Aber viele Zeitzeugen möchten wegen der einseitigen Darstellung der DDR nicht mehr darüber reden.“ Was zumindest auf ein älteres Ehepaar zutrifft. Es ist aus einem ganz besonderen Grund zu Stolpes Vortrag gekommen. „Wir wollten uns noch mal ganz herzlich bei Ihnen bedanken“, sagt der Mann. Und seine Frau fragt: „Erinnern Sie sich noch an uns? Eichsfeld? Sie haben uns damals sehr geholfen!“ Stolpe nickt. „Wie lange ist das jetzt her? 40 Jahre?“

Mehr möchten die beiden Eheleute nicht erzählen, nicht Fremden jedenfalls. Stolpe erlebt das oft bei Menschen, denen er zur Ausreise verholfen hat. „Die haben durch die Beschuldigungen gegen mich Angst, dass ihnen vorgeworfen wird, sie hätten das letztlich der Stasi zu verdanken – was oft nicht stimmt“, sagt er und findet diese Angst sogar verständlich. Bei ihm sei es einfacher: Der große Zuspruch, den er persönlich durch Gespräche und Briefe erfahre, wiege manche Anfeindung auf. „Meine Frau und ich versuchen, uns nicht unterkriegen zu lassen“, sagt Stolpe, „nicht vom Krebs und nicht von der Enquete-Kommission.“ Sein Lächeln ist traurig. Er fügt hinzu, dass der Krebs „schon vieles relativiert“.

Herbert Schnoor, der einstige Innenminister, ist aus Nordrhein-Westfalen zu seiner Tochter ins brandenburgische Werder gezogen und verfolgt hier die Diskussion um die Vergangenheitsaufarbeitung genau. „Es ist eine Schweinerei, wie man mit Stolpe umgeht“, sagt der 84-Jährige ganz unverblümt: „Er hat zu DDR-Zeiten die Drecksarbeit gemacht und alle Kirchenleute waren heilfroh, dass er ihnen das abgenommen hat.“

Schnoor kennt und erzählt Geschichten von Menschen, denen Stolpe geholfen hat, und zitiert dann den Spruch vom langen Löffel, den jeder braucht, der mit dem Teufel isst. „Vielleicht war der Löffel manchmal nicht mehr lang genug“, sagt er. „Aber ich bin überzeugt, dass Stolpe integer gehandelt hat. Er hat ein Herz für Menschen – das fehlt heute leider oft in der Politik.“

Dass Stolpe gut mit Menschen umgehen kann, sagt auch die Wirtin im Schoeler-Schlösschen: „Ich kenne ihn noch aus meiner Zeit in der Bundestagskantine. Da musste ich ihm oft Käsebrötchen schmieren.“

An diesem Abend genehmigt sich Stolpe aber eine ganze Pizza und sogar zwei Gläser Weißwein. Schließlich muss er heute nicht selbst fahren. Gestern habe er seinen wichtigen Termin in Potsdam tatsächlich gerade noch so geschafft, sagt er. Und er grinst. „Mein allmonatlicher Skatabend. Ich habe gewonnen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false