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In Reichweite: Angriffe der Hamas erreichen Tel Aviv und Jerusalem

„Die Chance, von einer Rakete getroffen zu werden“, sagt Idan Liberman, „ist ziemlich klein.“ Deshalb sorgt er sich mehr darum, in einem Lokal in Tel Aviv einen Tisch zu ergattern, als um die Angriffe der Hamas. Die aber erreichen sogar die beiden größten Städte Israels.

Die Sirenen heulen, Sekunden dauert es, dann folgt die Explosion. Es ist Mittagszeit in Tel Aviv, als am Freitag südlich der Stadt eine Rakete einschlägt. Wie schon am Abend zuvor. Die Million Einwohner im Großraum Tel Aviv sind verunsichert – und versuchen doch, so normal weiterzuleben wie irgend möglich.

Für jene, die mit der ständigen Bedrohung groß geworden sind, ist die Situation nicht grundlegend neu. „Ich will nicht sagen, dass hier alles wie immer ist, aber es gab schon schlimmere Momente in Tel Aviv“, sagt der 26-jährige Idan Liberman und meint etwa die Zeit der zweiten Intifada, als Selbstmordattentate Israel erschütterten, kein Bus, kein öffentlicher Platz sicher schien. Oder 1991, als in Tel Aviv das letzte Mal die Luftschutz-Sirenen heulten, weil Saddam Hussein aus dem Irak Langstreckenraketen auf Israel feuerte. „Damals ist eine Rakete direkt neben dem Haus meiner Familie eingeschlagen“, sagt Idan.

Am Freitagmittag steht der junge Mann mit dem Dreitagebart auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv und wartet mit zwei Freunden auf einen Tisch. Es ist voll im Café 12, junge Männer und Frauen sitzen hier bei Roséwein und Salat. Ob er Angst hat? „Klar“, sagt Idan, „Angst davor, keinen Tisch zu bekommen“. Seine Freundin grinst. Idan zündet sich eine Zigarette an.

Idan Liberman trägt Jeans und T-Shirt, er arbeitet als Texter in einer Werbeagentur. Als der Alarm am Donnerstagabend in Tel Aviv losging, telefonierte er gerade mit einer Kundin aus den USA. Sie fragte ihn: „Ist Alarm in Tel Aviv?“ Er musste kurz überlegen. „Ja, stimmt“, antwortete er schließlich, „lass mich nachher zurückrufen.“ Mit seinen Kollegen ging er ein Stockwerk tiefer. Einen Schutzraum hat das Bürogebäude nicht. „Angst hatten wir keine, aber wir haben uns auf jeden Fall erschrocken“, sagt er.

Mit der Operation „Säule der Verteidigung“, die am Mittwoch startete, wollte Israels Premier Benjamin Netanjahu die radikal-islamische Hamas im Gazastreifen abschrecken und dem Süden seines Landes nach Jahren andauernden Raketenbeschusses wieder Ruhe bescheren. Gezielt ließ er den Hamas-Oberkommandierenden Ahmed al Dschabari töten und befahl massivste Luftangriffe. Die Islamisten schworen Rache und schossen zurück.

Bislang sieht es aus, als werde die strategische Operation zu einem Krieg.

Vor der Hamas fürchtet Idan Liberman sich nicht.

Am Freitag hatten beide Seiten für den Besuch von Ägyptens Ministerpräsident Hisham Kandil im Gazastreifen eine dreistündige Waffenruhe vereinbart. Doch daraus wurde nichts.

Schwarze Rauchwolken standen am Himmel, Explosionen dröhnten, als Kandil am Freitag in Gaza-Stadt eintraf. Immer wieder musste er zusehen, wie Verletzte in das Shifa-Krankenhaus eingeliefert wurden. Ein Mann streckte ihm weinend den leblosen Körper eines vierjährigen Jungen entgegen. Kandil war zu Tränen gerührt.

Am Morgen war der ägyptische Regierungschef mit einer großen Delegation über Ägyptens Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen eingereist. Für Samstag, an dem die Arabische Liga in Kairo zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen will, hat sich mit dem tunesischen Außenminister Rafik Abdessalem bereits der nächste arabische Spitzenpolitiker im Kampfgebiet angekündigt.

Nach dem Arabischen Frühling und den ersten demokratischen Wahlen sind in Tunesien und Ägypten die Muslimbrüder an der Macht, die sich mit der Hamas-Bewegung eng verbunden fühlen. „Israel muss verstehen, dass es nicht mehr länger einfach tun kann, was ihm beliebt“, sagte Rafik Abdessalem dem Fernsehsender Al Dschasira. Die arabische Welt habe sich durch den Sturz der alten Regime grundlegend verändert. Und Ägyptens Premierminister Kandil versprach an der Seite von Hamas-Regierungschef Ismail Haniyeh, Ägypten werde alle Anstrengungen unternehmen, um die Aggression Israels zu stoppen. An die Adresse der internationalen Gemeinschaft appellierte er, „zu dieser Tragödie“ nicht zu schweigen. Palästina sei das Herz der arabischen Welt. Ägypten werde alles tun, die nationale Einheit der Palästinenser zu fördern, einen stabilen Frieden zu erreichen und einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt zu ermöglichen.

Während Israelis und Palästinenser sich gegenseitig beschuldigten, die Waffenruhe gebrochen zu haben, beschlossen Idan Libermann und seine Freunde, dass es keinen Grund gebe, nicht auch weiterhin auszugehen.

„Die Chance, von einer Rakete getroffen zu werden, ist ziemlich klein“, sagt er. Außerdem hätten die Bewohner von Tel Aviv ungefähr eineinhalb Minuten Zeit, um Schutz zu suchen. „Das ist mehr, als die Leute in den Städten rund um Gaza haben. Würde ich da leben, hätte ich wahrscheinlich mehr Angst.“ Fünfzehn Sekunden bleiben den Bewohnern der kleinen Orte nahe der Grenze, um sich bei Raketenalarm in einen Bunker zu flüchten.

Vor der Hamas fürchtet Liberman sich nicht. „Die Raketen, die sie haben, sind klein. Sie haben keine biologischen oder chemischen Waffen. Es ist wahrscheinlicher, dass ich auf dem Weg nach Hause von einem Auto überfahren werde.“

Und vielleicht ist, was so locker klingt, auch ein Stück weit Galgenhumor. Im Internet, sagt Liberman, machten viele schon Witze. „Auf Facebook, auf Twitter, wir nehmen die Hamas nicht wirklich ernst.“ Das bisschen Alarm in Tel Aviv? Er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Bisher ist hier ja nichts heruntergefallen. Und so lange das nicht passiert, werde ich leben wie bisher.“

„Wir wollen keinen Krieg“, sagt Israels Verteidigungsminister Ehud Barak.

Schon am Abend zuvor hatten die Israelis versucht, sich von den Raketen aus Gaza nicht einschüchtern zu lassen. Nur zwei Stunden und 26 Minuten nach dem abendlichen Alarm wurde das Euroleague-Spiel der Basketballer Maccabi Tel Aviv gegen Malaga pünktlich angepfiffen.

„Keine Panik“, bat der Stadionsprecher, „falls die Sirenen ertönen, bleiben Sie bitte auf ihren Sitzen. Beugen Sie sich nach vorne, klemmen Sie den Kopf zwischen die Knie, Hände über den Kopf.“

Im Stadion allerdings war keineswegs alles normal. Nicht nur, weil Maccabi zum ersten Mal in dieser Saison ein Heimspiel verlor. Erstmals seit vielen Jahren war die Halle nicht brechend voll: Anstatt der erwarteten 11 000 waren nur 8728 Fans gekommen. „Aus Vorsicht, schließlich bin ich Familienvater“, sagt einer, der zuhause blieb. Angst aber habe er nicht.

So entspannt wie in Tel Aviv sind die Bewohner der kleineren, näher am Gazastreifen gelegenen Städte wie dem ultrareligiösen Neviot oder Ofakim nicht. In den Schulen findet kein Unterricht statt, die Geschäfte sind geschlossen, die Straßen vielerorts menschenleer. Man hält sich, wie vom Zivilschutz befohlen, in unmittelbarer Nähe der Schutzräume, der öffentlichen Unterstände auf. Manche Eltern haben ihre Kinder in den als sicher geltenden Norden geschickt, sind selbst aber geblieben. „Wir leiden hier seit Jahren“, sagen die Menschen. „Doch wir lassen uns von hier nicht vertreiben. Es muss endlich wieder Ruhe herrschen, ein für alle Mal.“

Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der Opposition scheint die Regierung zu unterstützen: „Ich bin keine Netanjahu-Anhängerin, aber ich glaube, er handelt richtig“, sagt eine Studentin. „Unter ständigem Raketenbeschuss zu leben ist keine Alternative. Wir brauchen Abschreckung. Das ist pure Verteidigung“, meint sie. Auch Seev Mor, ein Lehrer, sieht keine Alternative: „Wir haben keine andere Wahl. Ich unterstütze Netanjahu und hoffe nur, dass er ganze Arbeit macht und Gaza erobert. Nicht um, die Palästinenser zu beherrschen, sondern damit wir endlich Ruhe haben.“

„Wir wollen keinen Krieg“, hatte Israels Verteidigungsminister Ehud Barak erklärt. Ziel der Aktion sei es „unsere Abschreckung wiederherzustellen, und der Fähigkeit, Raketen abzuschießen, empfindlichen Schaden zuzufügen“. Aus Militärkreisen hieß es am Freitagmittag, dass man nicht die Absicht habe, erneut eine Bodenoffensive zu starten wie zum Jahresende 2008, als die israelische Armee mit 20 000 Soldaten in Gaza einmarschierte. Andererseits hat die Armee aber schon am Mittwoch begonnen, Reservisten einzuziehen und Truppen rund um Gaza zu konzentrieren. Und aus Regierungskreisen hieß es: „Das ist erst der Anfang.“

Als am Freitagnachmittag auch in Jerusalem die erste Rakete einschlägt, hat Idan Liberman gerade erklärt, auch an diesem Abend ausgehen zu wollen. An die Vorhersage der israelischen Medien, dass die Nacht zum Samstag eine unruhige werden könnte, scheint in Tel Aviv niemand recht glauben zu wollen. In den Bars der Stadt verabreden sich die Jugendlichen – für End-of-the-World-Drinks.

Mitarbeit Gil Yaron, Anna Rau

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