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Unterwegs auf Rädern: Rad- und Rollstuhlfahrer haben oft ähnliche Wünsche an Weggestaltung. Aber die von Behinderten werden weniger oft gehört.

© picture alliance / dpa

Inklusion in Deutschland: Zur Behinderung gehören viele

Deutschland schwächelt bei der Gleichberechtigung von Menschen mit Handicap. Hier ist man nicht nur behindert, hier wird man behindert. Durch fehlende Rollstuhlrampen - und durch Arroganz. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Was ist eine Behinderung? Wenn im Keller die Lampe kaputt ist und man die Hand vor Augen nicht sieht oder wenn man blind ist? Wenn man nicht in den Bus kommt, weil man die Stufe nicht schafft oder weil er voll ist? Wenn man nicht ins Kino geht, weil der Rollstuhl nicht reinpasst oder weil man kein Geld hat?

Die Frage heißt: Ist man behindert oder wird man behindert?

In der TV-Sendung „Wahlarena“ am vergangenen Montag hat eine 18-Jährige mit Downsyndrom und Lederjacke eine Frage an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichtet: wie sie zu Spätabtreibungen stehe, die zulässig sind, wenn das zu erwartende Kind etwa am Downsyndrom leidet. Merkel verwies zu Beginn ihrer Antwort darauf, dass sie in der DDR aufgewachsen sei, auf einem Gelände, auf dem auch geistig Behinderte untergebracht waren, und dass es damals überhaupt keine Förderung für diese Leute gegeben habe. Heute aber gebe es Förderung, und an der jungen Fragestellerin zeige sich ganz hervorragend, wie viel man damit erreichen könne.

Womit Merkel die Frage einerseits beantwortet hat. Menschen werden behindert, etwa indem man sie nicht fördert.

Aber dann sagte die Kanzlerin noch: In den vergangenen vier Jahren habe man die Rechte der Behinderten „auf vernünftige Füße“ gestellt und einen Rechtsanspruch daraus gemacht. Und damit endete ihr zaghafter Ansatz, in die Umstände von Behinderung auch die Behinderer einzuschließen. Die Behinderung wurde wieder zum Problem des jeweiligen Behinderten.

An diesem Denkmuster hat in Deutschland bisher noch kein führender Politiker wirklich gerüttelt.

Der Rechtsanspruch, den Merkel ansprach, findet sich im Bundesteilhabegesetz von 2016, mit dem gleichwertige Lebensverhältnisse für Behinderte befördert werden sollten, auf Basis der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Doch es wurde ein Gesetz daraus, das unter großem Protest von Behindertenvertretern entstand. Im Mai 2016 ketteten sich knapp zwei Dutzend Rollstuhlfahrende in der Bannmeile vorm Reichstag an, um lauthals klarzumachen, dass das Gesetz ihrer Meinung nach den Wunsch nach Selbstbestimmung und Teilhabe noch erschwert.

Man wird behindert: durch fehlende Rollstuhlrampen - und durch Arroganz

Es ist eine alte Einsicht, dass sich im Umgang mit den Schwächsten die Zivilisiertheit einer Gesellschaft erweist. Wie sieht es also aus in Deutschland, wo Behinderte, die einen Betreuer haben, nicht wählen dürfen, auch wenn ihr Behinderungsgrad nichts mit ihrer Wahlfähigkeit zu tun hat? Wo weiterhin öffentliche Gebäude gebaut werden, die nicht barrierefrei sind. Wo sich jeder vierte Behinderte in Fragen der Fortbewegung oder der Berufswahl oder auf Ämtern und Behörden diskriminiert fühlt. Oder wo man Nachrichten in Gebärdensprache nur im Spartenprogramm findet, während gerade erst in den USA zu besichtigen war, wie es anders geht: Als dort bei jeder Hurrican-Pressekonferenz neben den Vertretern irgendwelcher Südstaatenprovinzen ein Gebärdendolmetscher stand, der übersetzte. Was sagt es über ein Land, wenn es seine Behinderten kleinhält? Wenn es ihnen ihr ohnehin anstrengenderes Leben unnötigerweise noch anstrengender macht? Vermutlich nicht viel Gutes.

Behindert wird viel zu oft mit unterlegen gleichgesetzt. Aber das ist ein falscher Gedanke. Letztlich sind doch alle anders als die anderen, jeder ist am Ende nur ein Individuum – und was ist bei wachsender Vielfältigkeit überhaupt normal zu nennen? Vielleicht kann ein Mensch mit Downsyndrom nicht so schnell rechnen wie einer ohne, aber wenn er dafür auch nicht lügen kann, hat er den einen Nachteil durch einen anderen Vorteil ausgeglichen.

Man ist nicht behindert, man wird es. Durch fehlende Rampen, Gebärdendolmetscher, Blindenleitsysteme. Und durch Konventionen und die Arroganz der Nichtbehinderten. Aber die sollten sich nicht zu sicher sein. Ob man zu den Behinderten gehört oder nicht, ist eine Frage, deren Beantwortung sich ändern kann.

7,6 Millionen Menschen in Deutschland sind im Besitz eines Schwerbehindertenausweises. Das ist fast jeder zehnte. 88 Prozent von ihnen sind mit den Behinderungen, die sie für den Ausweis nachgewiesen haben, nicht zur Welt gekommen. Sie haben sie zurückbehalten von Krankheiten oder Unfällen. Außerdem ist Behinderung eine Frage des Alters: Fast ein Drittel der Schwerbehindertenausweisinhaber sind über 75 Jahre alt. Eine Bevölkerung, die immer älter wird, wird tendenziell immer mehr Menschen mit Behinderungen in ihrer Mitte haben.

Was ist eine Behinderung? In der Präambel der UN-Konvention steht, dass „das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt“ und entsprechend immer wieder neu über diskriminierungsfreie Teilhabe zu diskutieren sei. Auf dem Internetportal der Bundesregierung heißt es dagegen: „In Deutschland gilt als schwerbehindert, wem die Versorgungsämter einen Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkennen und einen entsprechenden Ausweis aushändigen.“

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