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Fremdenführer. Als Jaime Beck aus Kolumbien kam, konnte er nur „Flugzeug“ und „guten Appetit“ sagen.

© Thilo Rückeis

Reporterpreis 2018 als "Beste Lokalreportage": "Komm rein und lern Deutsch!"

Für diesen Text über einen Lehrer, der Flüchtlingen nicht nur Deutsch beibringt, hat die Autorin den Reporterpreis gewonnen. Hier bringen wir ihn noch einmal.

Beim Reporterpreis 2018 ist dieser Text unserer Autorin Verena Friederike Hasel vom November 2017 mit dem Preis für die "Beste Lokalreportage" ausgezeichnet worden. Daher veröffentlichen wir ihn hier noch einmal.

Montagmorgen in Deutschland. Ein Mann betritt eines der größten Flüchtlingsheime in Berlin. Er will den Menschen Deutsch beibringen. Aber verdammt – man kann sich keinen vorstellen, der schlechter geeignet wäre. Der Mann stammt aus Kolumbien, verwechselt Dativ und Akkusativ und hat heute noch nicht mal ein Lehrbuch dabei.

Armes Deutschland.

Oder?

Im Raum 78 des Flüchtlingsheims im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf sitzen elf Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Libanon und halten sich an ihren Handys fest.

Jaime Beck klatscht in die Hände. „So“, sagt er. „Stellen wir uns vor, wir sind auf dem Amt.“ Und schon ist er auf den Flur verschwunden und steckt von draußen den Kopf ins Klassenzimmer.

„Ganz wichtig“, sagt er, „immer erst anklopfen auf dem Amt.“

Was man dabei alles falsch machen kann, führt Beck nun vor. Zum Beispiel wie irre gegen die Tür trommeln. Tammtammtamm. Beck drischt drauflos. Die Ersten legen das Handy aus der Hand. Dieser Typ ist unterhaltsamer als Whatsapp.

„Nun sind wir also drin“, sagt er. „Und bitte: Auf keinen Fall schimpfen jetzt. Lieber sagen: Danke, dass Sie Kopien gemacht haben. Wisst ihr, zu den Leuten vom Amt ist niemand nett. Wenn ihr nett seid, werden sie euch lieben. Und wenn ihr eure Unterlagen dabei habt! Wer von euch hat den Lebenslauf auf dem Handy?“

Zwei Männer melden sich.

„Bravo“, sagt Beck. „Alle anderen“, er macht ein Zeichen an seiner Gurgel, „Kopf ab.“ Allgemeines Lachen. Nur ein Mann mit Bart guckt finster.

Beck stellt sich vor ihn.

„Was sagst du zu der Frau vom Amt?“

„Bitte helfen Sie mir. Ich suche eine Arbeit“, murmelt der Bärtige.

„Sehr gut, mein Freund“, sagt Beck, „Aber nicht so grimmig schauen. Sonst denkt die Frau vom Amt noch, du bist Osama bin Laden.“ Der Bärtige hebt den Blick. Er taxiert Beck. Dann beginnt etwas um seine Augen herum zu tanzen und wandert bis zu seinem Mund. Der Bärtige lacht und hört eine ganze Weile nicht mehr auf.

Ein Integrationsgroßmeister Berlins

Geht es um Flüchtlinge, verfallen viele Menschen einem dualistischen Denken. Die einen verharmlosen die Probleme, die anderen übertreiben sie. Einer wie Jaime Beck ist für beide Lager ein heilsames Korrektiv. Der Kolumbianer arbeitet seit mehr als zwei Jahren in der Notunterkunft am Fehrbelliner Platz, fünf Tage die Woche, bis zu sechs Stunden täglich. Als ehrenamtlicher Helfer hat der 63 Jahre alte Unternehmensberater Hunderten von Flüchtlingen Deutsch beigebracht, hat manche in die Philharmonie begleitet und andere zur Polizei. Im Laufe der Zeit ist Beck zu einem der Integrationsgroßmeister Berlins geworden, und angefangen hat alles mit einer Verwechslung.

Als Beck am 6. September 2015 das Heim das erste Mal betritt, will er eigentlich nur einen alten Laptop abgeben. Als er erfährt, dass in einem Raum eine Deutschstunde für Flüchtlinge stattfindet, schlüpft er dazu. Vielleicht brauchen sie dort ja auch Dinge, die er spenden kann. Eine Frau erklärt gerade die Fälle, „der Mann, des Mannes, dem Mann, den Mann“. Drei junge Männer, die nebeneinander sitzen, sehen verzweifelt aus. Beck geht zu ihnen. Es ist ein kalter Tag, Beck reibt sich die Arme. „Kalt“, sagt er. „Kalt“, wiederholen die Männer. So geht es weiter, alle Wörter von elementarer Bedeutung kommen dran. Kreisförmiges Bauchreiben: Hunger. Zeigefinger an der Schläfe: Denken. Augenaufschlag gen Himmel: Liebe. „Bukra“, sagen die Männer irgendwann. Bukra? Beck schaut das Wort auf seinem Telefon nach, es bedeutet „morgen“. „Nein, nicht morgen“, ruft er entsetzt, „ich bin doch kein Lehrer.“ Doch die drei Iraker bestehen drauf. Bukra. „Okay, bukra, nine o’clock“, sagt Beck. Als er am nächsten Tag ankommt, warten die drei Männer schon auf ihn und haben noch vier Freunde mitgebracht. Am Morgen danach kommen zwölf, dann 15 Flüchtlinge, schließlich muss Beck in einen größeren Raum umziehen.

Er sagt: „Übermorgen“, und macht einen Sprung nach vorn

Becks pädagogisches Markenzeichen ist die geöffnete Tür. Läuft einer am Raum 78 vorbei, winkt Beck ihn heran. „Hallo, kannst du mich verstehen? Nein? Dann bist du hier richtig. Komm rein und lern Deutsch.“ Die Tafel im Raum 78 hat Beck mit kleinen Kreidezeichnungen bedeckt. Baum, Fahrrad, Moschee und Kirche. Vor diesem Wimmelbild aus Deutschland im Jahr 2017 steht Beck und unterrichtet. Und ja, Beck macht Fehler, er verwechselt Artikel und vertauscht Satzteile, aber sein Deutsch klingt wie ein Lied, das man mitsingen möchte. „Vater, Mutter, Tochter, Sohn.“ Eine Silbe treibt die nächste, jedes Wort hat Rhythmus und jeder Satz eine Melodie. „Jetzt alle zusammen.“ Und dabei bewegt sich Beck pausenlos. Sagt: „Übermorgen“, und macht einen Sprung nach vorn. Sagt: „Vorgestern“, und beugt sich so weit nach hinten, als tanze er Limbo.

Dass Beck so unterrichtet, liegt daran, dass er zunächst denen zuhörte, die er unterrichten wollte. Wenn Heimbewohner Koransuren rezitierten, klang das wie Gesang für ihn. Also beschloss er zu zeigen, dass auch Deutsch wie Musik klingen kann. Am liebsten führt Beck die Schönheit der deutschen Sprache jedoch mithilfe einer pantomimischen Einlage vor: Er deutet erst auf seinen Arm, dann auf das Band um seinen Hals und schließlich auf die Uhr an der Wand. Arm-Band-Uhr. Drei Wörter, die zusammen ein neues ergeben. Etwas kompliziert, aber insgesamt klar. Ein bisschen wie das Land, in das Beck vor 49 Jahren kam.

Jaime Beck hat Resonanz

Als Jaime Beck mit 14 in Deutschland ankam, konnte er nur „Flugzeug“ und „guten Appetit“ sagen. Die ersten Monate schlief er bei seinem Bruder unterm Bett, damit dessen Vermieter ihn nicht entdeckte. Drei Ausbildungen schmiss Beck hin, dann wurde er Koch, besuchte die Hotelfachschule, arbeitete sich hoch bis ins Kempinski und leitete schließlich ein Luxushotel in Niedersachsen, das so gut lief, dass Leute ihn anriefen und Tipps haben wollten. Seitdem arbeitet Beck als Berater für Menschen und Konzerne, die sich weiterentwickeln wollen.

Resonanz nennt man in der Physik die Fähigkeit eines Systems, mit einem anderen Körper mitzuschwingen. Beck hat Resonanz. Für einen Syrer, durch Granatensplitter im Auge erblindet und immer an der Hand seines Bruders, organisierte Beck einen Termin beim Spezialisten. Als dieser sagte, dass die Lage aussichtslos sei, weinte Beck, sodass der Bruder des blinden Syrers ihn in den Arm nahm.

Doch auch von seinen Schülern erwartet Beck Resonanz. Sie sollen die Schwingungen des Landes, in dem sie nun leben, aufnehmen, wiedergeben und verstärken. Beck, der klassische Musik liebt, besorgt den Flüchtlingen regelmäßig Freikarten für Konzerte. Fährt er mit ihnen in die Philharmonie, nimmt er immer die Straße, die an einem Hotel für Homosexuelle vorbeiführt, und weist seine Mitfahrer ganz explizit auf diesen Ort hin. „Für Männer, die fickificki machen?“, fragte ein Flüchtling entsetzt. „Nein, für Männer, die sich lieben“, antwortete Beck. „Das ist doch haram“, sagte der Flüchtling, nach islamischem Glauben verboten. „Du bist für Freiheit gekommen. Und das ist unsere Freiheit“, erwiderte Beck.

"Wenn ein Mann eine Frau schlägt, dann gehört er vor Gericht"

Als vor dem Brandenburger Tor eine Demo gegen Gewalt an Frauen stattfand, fragte Beck, wer ihn dahin begleiten wolle. Die Frauen winkten ab. Wenn ein Mann seine Frau schlage, dann habe er seine Gründe, sagte eine. „Wenn ein Mann eine Frau schlägt, dann gehört er vor Gericht“, antwortete Beck. Er diskutierte, erst mit den Frauen, dann mit ihren Männern. Am Ende fuhr er mit drei Kleinbussen und fast 30 Menschen zum Brandenburger Tor. Nachdem ein Flüchtling vom Dschihad gesprochen hatte, sagte Beck, er solle sich auf seinen ganz persönlichen Dschihad konzentrieren. Dschihad bedeute nämlich nichts anderes als Anstrengung, und er müsse sich anstrengen, um in Deutschland voranzukommen.

Klare Forderungen und Erwartungsmanagement. Für Beck gehört das genauso zum Umgang mit Flüchtlingen wie Empathie. Er staunt darüber, wie schwer sich Deutsche damit tun, eine Balance zwischen diesen Polen herzustellen. Er selbst hat sich schon einmal zwei Übersetzerinnen in den Unterricht geholt. Er bat sie, jedes Wort zu übersetzen, dann legte er los: „Ich habe die Nase voll von euch. Ihr kommt zu spät, macht nur an euren Handys rum und müllt alles voll. Ständig redet ihr von Respekt, aber selbst habt ihr null Respekt. Was denkt ihr eigentlich, wer ihr seid?“ Die Übersetzerinnen zögerten: Sie als Frauen könnten Männern doch nicht ... Beck unterbrach sie. „Meine Verantwortung.“ Als die Übersetzerinnen fertig waren, herrschte Stille. Dann begannen die Flüchtlinge zu applaudieren.

"Willst du einen Palast? Oder gleich bei Merkel einziehen?"

Von Misserfolgen lässt Beck sich nicht beirren. Eines Tages, kurz nachdem er mit seiner Klasse die Körperteile durchgenommen und dabei auch das Wort „Po“ in den Mund genommen hatte, erschien eine Frau nicht mehr zum Unterricht. Ihr Mann hatte es ihr verboten. Beck benutzt das Wort trotzdem weiter, fast mit Freude. Sagt es und hält sich danach mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund: „Oh, war das jetzt haram?“ Und als am Montagmorgen einer schimpft, dass er wütend sei, weil er immer noch keine ausreichend große Wohnung für seine ganze Familie habe, obwohl Angela Merkel ihn doch eingeladen habe, lacht Beck ihn aus. „Ist das dein Ernst? Willst du einen Palast? Oder gleich bei Merkel einziehen? Warte, ich rufe sie an.“ Es ist dieser Humor, der Situationen entschärft, die bei anderen eskalieren könnten.

Problematisch findet Beck die Neigung der Deutschen, Flüchtlinge auf eine Weise zu versorgen, die zur Unmündigkeit erzieht. Als Beck neulich einen Afghanen zum Tee in dessen ziemlich verdrecktem Zimmer besuchte, entschuldigte der Mann diesen Zustand mit dem Hinweis darauf, dass die Putzkolonne noch nicht da gewesen sei. Beck schüttelte den Kopf. „Und warum putzt du nicht einfach selbst?“

Um gegen die Passivität unter Flüchtlingen anzugehen, hat sich Beck vor Kurzem ein paar Wochen lang seine Arbeit im Heim bezahlen lassen, 25 Euro die Stunde. Jeden Freitag stellte er den Flüchtlingen eine wohltätige Organisation vor, darunter Amnesty International und Greenpeace, und spendete seinen Wochenverdienst im Namen der Flüchtlinge an sie. „Ruht euch nicht auf den paar Hundertern aus, die ihr von Mama Merkel bekommt“, sagte er. „Arbeitet lieber dran, dass ihr eines Tages so viel verdient, dass ihr Gutes tun könnt.“

Mit 160 Flüchtlingen ist Beck in einer Whatsapp-Gruppe

Ein Samstagabend im Oktober. Jaime Beck besucht mit Flüchtlingen das Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Noch zwei Tage, dann wird er mit seinem Bruder für acht Wochen nach Kolumbien fliegen. Bei seiner Rückkehr wird das Heim am Fehrbelliner Platz schon geschlossen sein. Wie es weitergeht, weiß Beck noch nicht , aber längst hat sich sein Engagement für Flüchtlinge vom Heim gelöst. Mit 160 Flüchtlingen ist Beck in einer Whatsapp-Gruppe, manchen hilft er, Wohnungen zu finden, andere werden in Heimen unterkommen, wo auch ehrenamtliche Helfer benötigt werden. Für heute hat Beck 24 Freikarten besorgt. Er sitzt neben Basel aus Syrien, Parkett rechts, vor ihm Fahranaz, Farzana und Forozan, drei Schwestern aus Afghanistan. Während des Haydnstücks kontrolliert Basel alle paar Minuten sein Handy, bis Beck sich zu ihm hinüberbeugt. „Allah hat gesagt, dass du alles, was du tust, mit ganzem Herzen tun sollst. Also pack endlich das blöde Handy weg.“

In der Pause zeigt Beck den Flüchtlingen die Beethovenbüste an der Wand und führt sie zur Freitreppe, von der aus man den ganzen Gendarmenmarkt überblickt. Während Basel sich mit einer Mexikanerin unterhält, die er gerade kennengelernt hat, zeigt Beck den drei Schwestern aus Afghanistan die Schillerstatue auf dem Platz. „Das ist der deutsche Dichter, der diesen tollen Text geschrieben hat, dass alle Menschen Brüder werden.“

Forozan seufzt. Deutsch fällt ihr schwer. Dabei würde sie gern hier Medizin studieren. „Das schaffst du schon“, sagt Beck. „Weißt du, die Grammatik, die kann ich doch auch nicht. Und stell dir mal vor: Beethoven, der für Schillers Brüder-Text die Musik geschrieben hat, war sogar völlig taub. Und hat trotzdem Stücke geschrieben, die noch heute jeder kennt!“ Dann erzählt Beck, dass rund um den Gendarmenmarkt mal Flüchtlinge wohnten, die man Hugenotten nannte.

"Was macht ihr in Afghanistan, wenn ihr etwas toll findet?“

Gehörlose Menschen komponieren Welthits und Flüchtlinge besiedeln so ein vornehmes Viertel: Mit Beck auf der Freitreppe erscheint Deutschland wie ein Land der Wunder. Nach der Pause kehren alle zu ihren Plätzen zurück, es folgt Schuberts „Tragische“. „Hat’s dir gefallen?“, flüstert Beck Forozan am Ende zu. Forozan nickt. „Was macht ihr in Afghanistan, wenn ihr etwas toll findet?“, fragt Beck. Forozan wird ein bisschen rot, nestelt an ihrem Kopftuch, dann stößt sie einen hohen Trillerlaut aus. Eine Frau mit ondulierten grauen Haaren dreht sich um, sieht Forozan und lächelt. Forozan lächelt zurück und trillert noch einmal.

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