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Auch vor Gericht bringt der Jugoslawien-Krieg nur Verlierer: Menschen in den Straßen der kroatischen Stadt Vukovar 1991.

© dpa

Internationaler Gerichtshof: Freispruch für zwei Verlierer

Der IGH hat sein Urteil gegen Serbien und Kroatien verkündet. Das Suprematie-Denken, das damals zu Mord und Vertreibung führte, lebt bis heute weiter - in Russland.

Von Caroline Fetscher

Altbekannte Bilder waren es. Auf Traktoren und Pferdekarren, in rostigen Zastavas, zu Fuß, mit Bündeln auf dem Rücken, so zogen die Trecks der Flüchtenden im zerfallenden Jugoslawien der 1990er Jahre über Land. So sah „ethnische Säuberung“ aus, seit im 19. Jahrhundert das Virus des Nationalismus ausgebrochen war. Eine unerwünschte Gruppe der Bevölkerung sollte ganze Landstriche verlassen, eine „reine“ Nation entstehen. Dabei griffen Aggressoren oft zu allen Mitteln: Hetzpropaganda, Mord und Morddrohungen, Vergewaltigung, das Ausplündern von Dörfern und Städten, das Zerstören von Brücken und Brunnen, Bibliotheken, Katasterregistern, Kirchen, Moscheen. Selbst was symbolisch für „die anderen“ stand, sollte verschwinden.

Serben und Kroaten verklagten sich gegenseitig vor dem Internationalen Gerichtshofs

Nach ihren Kriegen klagten sich Ex-Jugoslawen wechselseitig an. Kroatien zog 1999 gegen Serbien vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen der Vertreibungen und Morde an Kroaten zwischen 1991 und 1995. Verlangt wurden Reparationen. Im Gegenzug rief Serbien 2010 den IGH an, und verklagte Kroatien wegen massenhafter Morde und Vertreibungen von Serben. Beide Parteien erhoben den Vorwurf des Völkermords. 20000 Tote gab es in Kroatien, die meisten von ihnen waren Kroaten. Vertrieben worden aus Kroatien waren 200000 Serben. Am Dienstag nun hat der IGH in Den Haag – nicht zu verwechseln mit dem Haager UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) – sein Urteil gesprochen: Freispruch für beide Kontrahenten.

Beide, Serben und Kroaten, verlieren den Prozess

Zwei Verlierer, kein Gewinner. Erwiesen seien Vertreibungen und Verbrechen, erklärten die Richter, jedoch nicht die Intention zur physischen Auslöschung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Dieses Kriterium zählt. Völkermord wird nach der UN-Genozidkonvention von 1948 definiert als die vorsätzliche Ermordung einer ganzen Gruppe oder eines Teils einer ganzen Gruppe wegen deren ethnischen Merkmale, Nationalität oder Religion. Jugoslawiens Zerfallskrieg verdankte sich dem Wiederaufflammen nationalistischer Phantasmen, allen voran dem serbischen Anspruch auf Suprematie. Beobachtern konnte die Selbstverständlichkeit auffallen, mit der Flüchtende ihre Habe packten, die routinierte Technik, mit der sie gusseiserne Öfen und hölzerne Babywiegen auf ihre Karren aufgeschnallten. Seit Generationen hatten die Bevölkerungen Südosteuropas Erfahrungen mit Flucht, mit der zynischen Dynamik „ethnisch“ motivierter Wellen von Hass.

Die Nachfolgestaaten streben in die EU, doch das Denken, das den Krieg antrieb, lebt in Europa bis heute weiter - in Russland

Jugoslawiens „Nationen“ bekamen ihren Willen. Wo ein Staat war, gibt es heute sieben. Die Zerfallsprodukte streben in die Europäische Union, aufgenommen wurden bisher nur Slowenien und Kroatien. Ohne die Selbstzerstörung wäre längst ganz Jugoslawien florierendes Mitglied der EU. Armut und Korruption sind heute fast überall Probleme, die beiden Kläger vor dem IGH können sich zu dem Richterspruch gratulieren. Entschädigungen zu zahlen würde die Staatshaushalte zusätzlich strapazieren.

Den Akteuren aber, die heute dabei sind, die ukrainische Region Donbass „ethnisch“ zu säubern, wäre zu raten, die Lektion aus den Jugoslawienkriegen zu studieren. Worum geht es in der Ukraine? Um Russlands nationalistische Phantasmen und Ansprüche auf Suprematie. Sie produzieren altbekannte Bilder. Und Tote, keine Gewinner.

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