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Özdemir

© dpa

Interview: Cem Özdemier: "Mir fällt kein Zacken aus der Krone"

Parteichef Cem Özdemir spricht im Tagesspiegel-Interview über die neue Grünen-Generation, Ampeln und eine linke Mehrheit

Von Hans Monath

Herr Özdemir, ergänzen Sie doch bitte einige Sätze: An Guido Westerwelle mag ich …



… dass er ein Vollblut-Profi ist und Politik mit ganzer Leidenschaft macht. Inhaltlich haben wir Dissens in vielen entscheidenden Fragen. Wir sind direkte politische Konkurrenten.

An Frank-Walter Steinmeier stört mich …

… nicht viel, weil er viele politische Ziele vertritt, die mit unseren gut zusammenpassen. Dabei wird gern übersehen: Die SPD löst oft nicht ein, was Steinmeier verspricht. Er redet von der ökologischen Erneuerung der Wirtschaft. Tatsächlich ist das SPD-Wahlprogramm eine ökologische Mogelpackung. Wer bedingungslos an Kohlekraftwerken festhält, nimmt Klimaschutz nicht wirklich ernst. Die SPD ist wesentlich rückständiger, als Steinmeier glauben machen will.

Ich bin im Herbst als eine Art Hoffnungsträger zum Parteichef gewählt worden und habe zumindest schon erreicht …

(Lacht) … dass die Grünen fit für den Wahlkampf sind. Nicht Cem Özdemir ist der Hoffnungsträger, sondern die gesamte Partei. Wir stehen in Deutschland für das, wofür sich in den USA Obama und seine Anhänger einsetzen, nämlich für den Wandel und die Zukunftsfähigkeit der Republik.

Anders als viele Grünen-Spitzenpolitiker schauen Sie auf keine linksradikale Vergangenheit zurück. Prägt das Ihre Arbeit?

Ich bin nicht mit dem Motto angetreten: Hau’ weg den Mist! Dazu sehe ich gar keine Notwendigkeit. Bei uns sind junge Leute in wichtige Funktionen aufgerückt, auch in den Ländern. Mir fällt aber sicher kein Zacken aus der Krone, wenn ich die Leistungen derer würdige, die erst dafür gesorgt haben, dass ich heute hier sitze. Wir haben das Thema Ökologie in den Mittelpunkt gestellt, wir buchstabieren das Thema Gerechtigkeit neu, wir haben die Friedenspolitik weiterentwickelt und sind heute die glaubwürdigsten Verteidiger der Bürgerrechte in Deutschland. Das haben wir gut hingekriegt.

Sind das nicht alles Projekte, die die erste Generation auch schon bearbeitete?

Natürlich, wir sind uns treu geblieben, aber unsere Themen haben an Bedeutung gewonnen und sich entwickelt, siehe grüne Wirtschaftspolitik. Wir Grüne haben die Energiepolitik nachhaltig verändert mit dem Atomausstieg und dem Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien. Aber würden Union und FDP die Bundestagswahl gewinnen, würden sie unsere Energiepolitik abwickeln. Sie wollen die alten Schlachten noch einmal schlagen. Bitte! Auch wir Jungen ziehen gern die Boxhandschuhe an und zeigen, dass wir genau so kämpferisch sind wie die Generation vor uns.

Haben die Jungen bei den Grünen denn kein eigenes Projekt?

Es müssen nun vor allem endlich gesellschaftliche Missstände beendet werden. Ich denke etwa an die erschreckende Tatsache, dass in Deutschland die Frage der sozialen und ethnischen Herkunft mehr als in jedem anderen westlichen Industrieland über die Bildungs- und Karrierechancen bestimmt. Ich bemühe mich deshalb darum, dass die Grünen nicht nur als Partei mit ökologischer Kompetenz und Kompetenz auf dem Feld des Verbraucherschutzes gelten. Wir müssen in der Wahrnehmung der Leute auch die Partei werden, die das beste Rezept gegen diese Ungerechtigkeit anbietet.

Mit welchen Koalitionspartnern wollen die Grünen ihre Ziele denn umsetzen?

Wir müssen endlich die klassische Lagerdiskussion überwinden. Es gibt einen weltweiten Aufbruch hin zu einer ökologischen Politik, in der US-Präsident Barack Obama und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon wichtige Anstöße geben. Wir müssen in Deutschland den Anschluss an eine ökologische Politik erst wieder gewinnen. Alle Menschen, die das auch wollen, zähle ich deshalb zum grünen Lager – jenseits aller Rechts-Links-Arithmetik.

Noch einmal die Frage: Mit wem wollen die Grünen im Herbst regieren?

Das hängt davon ab, mit wem grüne Inhalte dann umsetzbar sind. Unsere Wahlziele lauten: Wir wollen Schwarz-Gelb verhindern. Die Fortführung der großen Koalition würde nochmals vier Jahre Stillstand bringen. Wenn diese Ausgangsposition erreicht ist, wird man sehen, mit wem es möglich ist, auf der Grundlage unseres Programms zu gestalten. Wenn unsere Ziele nicht durchsetzbar sind, gehen wir in die Opposition. Da fällt uns kein Zacken aus der Krone.

Denkbare Konstellationen für eine Regierungsbeteiligung der Grünen sind die Ampelkoalition mit SPD und FDP, die Jamaika-Koalition mit Union und FDP oder Rot-Rot-Grün mit SPD und Linkspartei.

Als Mehrheitsbeschaffer für eine schwarz-gelbe Politik stehen wir nicht zur Verfügung. Wir reichen nicht die Hand, um weiter Politik nach Rezepten zu gestalten, die uns erst in die Krise geführt haben. Rot-Rot-Grün ist auch nicht machbar, wenn die Linkspartei sich nicht verabschiedet von dem Nein zum Lissabonner Vertrag der EU, von der Renationalisierung der Außenpolitik und von unrealistischen Versprechungen in der Innen- und Sozialpolitik.

Damit wir es richtig verstehen: Eine Ampelkoalition könnte herauskommen, wenn die Prozente stimmen und Koalitionsgespräche die Grünen zufrieden stellen?

Unser Wahlaufruf schließt eine Ampelkoalition nicht aus. Entscheidendes Kriterium ist die Durchsetzung grüner Kernprojekte, wie etwa der Atomausstieg. Das ist eine glasklare Position. Unsere Wähler wollen doch wissen, welche Politik wir nach dem 27. September mit ihrer Stimme machen. Es wäre unredlich sich jetzt, fünf Monate vor der Wahl, explizit auf hypothetische Parteikonstellationen festzulegen, wo die Mehrheitsverhältnisse überhaupt nicht absehbar sind.

Warum sprechen Sie der Linkspartei in den wenigen Monaten bis zur Wahl mehr Entwicklungspotenzial zu als Union und FDP, mit denen Sie explizit nicht regieren wollen?

Wir begründen unsere Absage an Jamaika inhaltlich, nicht ideologisch. Bezogen auf Rot-Rot-Grün wäre es etwas anderes, wenn sich die Linkspartei in den entscheidenden Fragen bewegen würde. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Linkspartei im Herbst das Gegenteil von dem vertritt, was sie in diesem Jahr beschlossen hat. Auf ihrem Europaparteitag sind all diejenigen abgestraft worden, die für eine gemäßigte Europapolitik stehen. Eine andere Frage ist, wie sich die Linkspartei nach der Bundestagswahl weiterentwickelt. Darauf haben wir Grüne allerdings weniger Einfluss als die SPD.

Was ist falsch am Gedanken einer linken Mehrheit in Deutschland?

Der Begriff der linken Mehrheit ist nicht sehr aussagekräftig, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Ich will nicht Teil einer sogenannten linken Mehrheit sein, in der etwa Oskar Lafontaine die Außenpolitik definiert. Ich will nicht, dass die Linkspartei zuständig ist für die Haushaltsdisziplin oder den Umgang mit Arbeitsimmigranten, die Lafontaine auch mal als „Fremdarbeiter“ bezeichnet hat.

Würden die Grünen überhaupt eine Koalition mit Guido Westerwelle ertragen? Was sind denn Ihre Gefühle bei diesem Gedanken?

Meine Gefühle sind mir da relativ egal, muss ich Ihnen sagen. Wir haben mit Otto Schily regiert, der den Überwachungsstaat ausbauen wollte. Wir haben mit Gerhard Schröder, dem Autokanzler, regiert, der Wladimir Putin zum lupenreinen Demokraten erklärte. Koalitionen sind pragmatische Unternehmungen, bei denen es nicht darum geht, ob man sich gegenseitig liebt. Da geht es knallhart darum, ob wir uns in Kernfragen durchsetzen können und ob die Konstellation belastbar ist. Es geht um Politik und nicht um die Frage, ob mir Guido Westerwelle sympathisch ist oder nicht.

Herr Özdemir, erst scheitern die Grünen-Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin mit dem Versuch, eine Wahlaussage zugunsten einer Ampelkoalition durchzusetzen. Dann erleidet der Bundesvorstand Schiffbruch, als er ein Spitzenteam für die Wahl aufstellen will. Was läuft schief in der Führung Ihrer Partei?

Also zunächst sehe ich überhaupt keinen Schiffbruch – weder einen des Bundesvorstandes noch der Spitzenkandidaten. Der Vorstand hatte mit dem Spitzenteam ein Angebot an die Partei gemacht, weil er sich vor allem an den Länderratsbeschluss vom letzten Jahr gebunden fühlte. Wenn man dann aber feststellt, dass die Partei selbst keinen Wert mehr darauf legt, ist es doch besser, bei der bereits vorhandenen Struktur zu bleiben. Schließlich sind wir personell für den Wahlkampf gut aufgestellt mit unseren Spitzen Renate Künast und Jürgen Trittin sowie mit Claudia Roth und mir als Parteivorsitzenden. Und was den Wahlaufruf betrifft: Die Spitzenkandidaten haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir Grünen regieren wollen und unser gutes Programm auch umzusetzen gedenken. Mein Job und der meiner Ko-Vorsitzenden ist es, die Partei auf diesen Weg mitzunehmen.

Herr Özdemir, werten nicht auch die Grünen in der Krise nun soziale Kriterien höher als ökologische? Beispiel Opel: Auch die Grünen wollen den Konzern mit Staatshilfe retten. Früher hätten Sie verlangt, dass der rückständige Konzern auf ökologisch verträglichere Produkte umstellt.

Opel stellt im Vergleich zu anderen deutschen Automarken nicht die rückständigsten Fahrzeuge her. Das zeigt schon der Flottenverbrauch. Der Staat soll unseres Erachtens nur übergangsweise helfen.

Mit Bürgschaften oder per Staatsbeteiligung?

Unsere Präferenz sind staatliche Bürgschaften. Übrigens bin ich sehr skeptisch, was die Voraussagen mancher Wirtschaftsexperten für die Zukunft von Opel angeht. Die lagen in der Vergangenheit mit vielen Prognosen daneben. Die gleichen Wirtschaftsexperten haben das Potenzial von Jobs im Umweltbereich zu niedrig eingeschätzt, die Chancen erneuerbarer Energien verkannt und grundfalsche Aussagen zur Stabilität und Leistungsfähigkeit des globalen Finanzsystems getroffen.

Lag Attac richtiger als, sagen wir, Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann?

Von Attac haben wir Grüne sicher mehr gelernt als von Josef Ackermann. Dass wir die Arbeit dieser Organisation schätzen, sehen Sie daran, dass mit Sven Giegold der vielleicht wichtigste Attac-Aktivist auf einem sicheren Listenplatz der Grünen für das Europaparlament kandidiert.

Da wir bei den sozialen Bewegungen sind. Gesine Schwan, die auch die Grünen zur Präsidentin wählen wollen, warnt vor sozialen Unruhen. Zu Recht?

Da wird ein bisschen viel aufgebauscht …

Von Gesine Schwan?

Nein, nicht von ihr. Vor der Bundestagswahl ist die Zeit der Zuspitzung, in der gern Aussagen verkürzt werden. Gesine Schwan hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Politik es nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen darf, wenn die Arbeitslosenzahlen in der Krise dramatisch in die Höhe zu schnellen drohen. Wir müssen die Lage nicht dramatisieren, sie ist dramatisch genug.

Wie wollen Sie verhindern, dass die Krise noch mehr Jobs kostet?

Mit dem Grünen New Deal, der die Wirtschaft umbaut. Im Umweltsektor haben wir heute schon 1,8 Millionen Arbeitsplätze. Da liegt die Zukunft. Unsere Bundestagsfraktion hat nun ein detailliertes Konzept vorgelegt, wie wir eine Million weiterer Arbeitsplätze in Wachstumssektoren wie dem Umweltbereich und dem sozialen Bereich binnen vier Jahren schaffen können. Laut dem Nicholas-Stern-Report brauchen wir 20 Prozent Öko-Investitionen, um die drohende Erderwärmung von zwei Grad zu stoppen. Von diesem Ziel ist die große Koalition mit ihren Konjunkturpaketen meilenweit entfernt. Sie hat keinen ökologischen Kompass.

Hat SPD-Chef Franz Müntefering recht mit seinem Verdikt, der Kapitalismus gehöre „in die Mülltonne der Geschichte“?

Wir haben nie an die Form des Kapitalismus geglaubt, die spätestens gescheitert ist, als Lehmann Brothers zusammenbrach. Gegen diese Form des Kapitalismus haben wir uns als Grüne gegründet. Das heißt aber nicht, dass eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft gescheitert ist. Protektionismus und Planwirtschaft sind keine Antworten, die uns aus der Krise führen. So habe ich Müntefering auch nicht verstanden. Aber das System ist etwa im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit blind. Hier muss auf dramatische Weise nachgebessert werden. Damit sind wir erst am Anfang.

Das Gespräch führten Hans Monath und Antje Sirleschtov.

Zur Person
VORREITER

Der in Schwaben aufgewachsene Sohn türkischer Gastarbeiter ist der erste Migrant an der Spitze einer Bundestagspartei. Der 43-Jährige lebt mit Frau und Tochter in Berlin-Kreuzberg.

VORSITZENDER

Im Wahljahr 2009 steht der vor fünf Monaten gekürte Parteichef im Schatten der Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin.

VORTURNER

Als Vortunrner der Realos hat Özdemir es mit einer linken Mehrheit in der erweiterten Grünen–Spitze zu tun. Auf dem Parteitag am Wochenende wollen Teile der Basis die Partei noch weiter nach links rücken.

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