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Der Historiker Fritz Stern.

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Interview: Fritz Stern: "Fortschritt hat Nebenwirkungen"

"Amerika muss sich die Vorbildrolle erst wieder erarbeiten": Der Historiker Fritz Stern über Chinas Aufstieg, die Schwächen der USA und sein Vertrauen in Europa

Der vielleicht typischste Satz, den man in Amerika über das Ziel des Lebens hört, lautet: To make the world a better place, die Welt zu einem besseren Ort machen. Die Erde erlebt gerade den Aufstieg einer neuen Weltmacht, China. Und die Geburt neuer Staaten wie Süd-Sudan. Macht das die Welt besser, bedeutet es Fortschritt?
Nein. Es bedeutet eine Veränderung. Die ganze Geschichte ist eine Abfolge von Veränderungen. Ob daraus Fortschritt oder Rückschritt wird, muss man im Einzelfall sehen. Gerade bei China zögere ich mit einem schnellen Urteil. Henry Kissinger erzählt gerne, er habe Mao einmal gefragt: Was halten Sie von der Französischen Revolution? Und Mao habe geantwortet: Glauben Sie nicht, dass es zu früh ist für eine abschließende Bewertung?

Die Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten galt 2008 als Fortschritt. Heute sehen ihn viele Amerikaner distanzierter. Warum?

Erstens haben die Amerikaner ein besonders schlechtes historisches Gedächtnis. Viele können sich schon jetzt nicht mehr an die Euphorie von 2008 erinnern. In den jüngsten Tagen ist die Zustimmung zu Obama nach seiner Rede zu den Schüssen in Tucson freilich erstaunlich gewachsen. Und seine Rede zur Lage der Nation war ungeheuer geschickt und listig. Seine Wahl war ein wichtiger Wendepunkt. Aber auch hier scheue ich das Wort Fortschritt. Die Wahl eines schwarzen Präsidenten, dazu eines so sympathischen Menschen, war ein großartiger Moment. Nur wenige haben damals gesehen, dass dies für viele Amerikaner noch immer ein Schlag ins Gesicht war und der Rassismus dadurch anstieg. Da ich aus einer Familie von Medizinern komme: Wir haben Riesenfortschritte in der Behandlung von Kranken dank neuer Medikamente erlebt. Viele haben aber Nebenwirkungen, manchmal sogar gefährliche. Fortschritt hat Nebenwirkungen.

Ist das ein historisches Gesetz: Auf Phasen der Modernisierung folgen Phasen der Restauration? Aktion ruft Reaktion hervor?

Die Menschen reagieren so. Ich bezweifle, dass wir daraus Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ableiten sollten. Die Kunst des Staatsmannes besteht darin, die Geschichte als offenen Prozess zu sehen und die Handlungsmöglichkeiten und ihre Folgen, von denen manche negativ sind, abzuwägen. Das geht dann auch ins Psychologische. Hätten wir unsere Freude über Obama dämpfen sollen, weil seine Wahl zu neuem Rassismus führen kann? Historiker sind auch nur Menschen. Für mich war 1989 das glücklichste politische Jahr meines Lebens. Obamas Wahl reicht da nicht heran. Sie war großartig – eine Befreiung von George W. Bush und Dick Cheney. Aber sie hat mir meine Sorgen um Amerika nicht genommen. Sie sind heute größer denn je.

Was sind Ihre Sorgen?

Das Land entzweit sich immer mehr. Der aufklärerische, reformbereite Teil sieht sich mit einer wachsenden Welle realitätsferner Menschen konfrontiert. Der Enron-Skandal 2001 (um die manipulierte Bewertung dieses Energiekonzerns) erschien mir schon damals als Wendepunkt: Die Bürger verloren das Vertrauen in die Institutionen, die Traditionen und die Zukunft. Demokratie braucht Vertrauen auf allen Ebenen. Es folgten weitere Skandale und Finanzkrisen, die das Land beinahe zugrunde gerichtet hätten. Das Vertrauen in die Finanzbranche, die Wirtschaft, die Kirchen, ja sogar Wissenschaft und Erziehung ist erschüttert. Das ist gefährlich für die Demokratie, und ich weiß nicht, wohin das noch führen kann. Es gab keine historische Gesetzmäßigkeit, dass das alles parallel geschah: die Missbrauchsskandale um Priester, die Finanzkrise.

Ist das Blutbad von Tucson ein weiterer Wendepunkt und, wenn ja, wohin? Zunächst ist das Ansehen Obamas wieder kräftig gestiegen und das Sarah Palins gefallen.

Ich fürchte, Tucson könnte bald wieder vergessen sein. Im ersten Augenblick hatte ich für mich selbst den Vergleich zu Rathenau gezogen: politischer Mord als Ergebnis einer Kampagne. Das denke ich jetzt nicht mehr. Es gibt eben auch unpolitische Verrückte. Doch das Ausmaß der Gewaltbeschwörung vor Tucson war bedrückend und gefährlich. Und noch gibt es keine Reform des Waffenverkaufs.

Was hält der Historiker Stern von Wikileaks?

Ich bin skeptisch. Früher sagte man: Ein Gentleman liest keine fremden Briefe. Es ist unbestreitbar, dass ein Teil der Veröffentlichungen auch seine guten Seiten hat. Es wäre zu begrüßen, wenn dies generell zu mehr Transparenz führt. Aber das Gegenteil ist wahrscheinlich. Die Abschottung wird zunehmen, Diplomaten werden vorsichtiger, die Berichte werden noch banaler. Deshalb bin ich aus Prinzip und aus praktischen Gründen sehr skeptisch gegenüber Wikileaks.

Vor 50 Jahren wurde John F. Kennedy Präsident. Gilt er zu Recht als Ikone der Aufklärung und des Fortschritts?

Ich habe seine Wahl unterstützt. Seine Antrittsrede habe ich noch genau in Erinnerung.

… frage nicht, was dein Land für dich tun kann …

… nein. Wichtiger war: Civility is not a sign of weakness. (Höflichkeit ist kein Zeichen von Schwäche.) Das wurde auch zum geflügelten Wort in meiner Familie und hat viel Gutes bewirkt. In der scharfen Zeit des Kalten Krieges, der Kuba-Krise, war das ein bedeutender moralischer Anspruch. Kennedy weckte große Hoffnungen, die sich dann wegen seiner Ermordung nicht alle erfüllt haben. Ich glaube, auch wenn man das nicht beweisen kann: Er hätte den Vietnameinsatz nicht verstärkt; er wäre abgezogen. Er war hochintelligent, was man nicht von jedem Präsidenten sagen kann.

Nach Einschnitten wie Vietnam oder jetzt der Finanzkrise hört man in Europa schnell die These vom unausweichlichen Abstieg Amerikas, dem Ende der Weltmacht.

Natürlich haben solche Erfahrungen Auswirkungen auf das Bild Amerikas. Das Wort Abstieg stimmt aber nur begrenzt. Chinas Aufstieg relativiert das Gewicht Amerikas und belastet die Beziehung zu Europa, weil die USA ihre Aufmerksamkeit stärker nach Asien wenden und Europa nach dem Kalten Krieg keine so große Rolle mehr spielt. Außerdem ist es für kein Land leicht zu verdauen, wenn es seine gewohnte Vorherrschaft verliert. Amerika wird sich damit vielleicht besonders schwertun. Die Engländer haben das nach 1945 wohl mit am besten gemacht.

Was ist die größte Gefahr?

Abstieg und Gefahr – das sind ihre Worte. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Amerika es als Ansporn begreift und endlich die überfälligen Reformen in Angriff nimmt. Obama ist ein kluger politischer Pädagoge und Denker. Er hat Realitätssinn. Den Republikanern fehlt er bisher leider. Chinas Aufstieg als Herausforderung – das wäre eine begrüßenswerte Variante. Es kann aber auch zu Isolationismus führen oder, noch schlimmer, zu Hass auf die übrige Welt. Die Tea Party ist ein Beispiel dafür.

In welchen Zeiträumen vollzieht sich solch eine Wende vom atlantischen zum pazifischen Zeitalter: eine Generation?

Ach, heute geht doch alles schneller als früher. Es kann aber auch ganz anders kommen: Die chinesische Herausforderung – bisher ist es keine militärische Herausforderung, Gott sei Dank, sondern eine ökonomische, politische und kulturelle – könnte Amerika wieder näher zu Europa treiben und den Gedanken des Westens wiederbeleben. Es wäre interessant nachzuzählen, wie oft der Begriff „Westen“ vor 20 Jahren in amerikanischen Zeitungen vorkam und wie oft heute. Ich nehme an, viel seltener. Ich bin ein Anhänger des Westens. Er hat ungeheuer viel erreicht. Er hat auch ungeheuer viel zerstört. Aber die Ideale des Westens sind immer noch gültig.

Welche?

Individuelle Freiheit und Entwicklung, Überwindung orthodoxer Dogmen, die zuvor mit Gewalt durchgesetzt wurden. Der Westen hat freilich auch Schaden angerichtet, selbst in den letzten Jahrzehnten. Die Entwicklung des Raubtierkapitalismus ist eine Schande. Das dachte ich schon seit Ronald Reagans Zeiten: Die Vergötterung des sogenannten freien Markts führt zu einer Katastrophe, auch einer moralischen Katastrophe. Die Spaltung des Landes in Reiche und Arme ist erschütternd und vertieft sich weiter. Was die Finanzwelt uns zumutet, ist obszön. Amerika muss sich die internationale Achtung, die es früher mal genoss, erst wieder verdienen. China beeindruckt die Welt zwar mit seinem materiellen Fortschritt, aber ein Land, das ständig die Menschenrechte verletzt, kann niemals den vollen Respekt der liberalen Welt gewinnen. Wir müssen den Dissidenten dort genauso helfen wie früher denen in Osteuropa. Sie werden eines Tages frei sein. Amerika muss sich die Vorbildrolle erst wieder erarbeiten, das gilt von Guantanamo bis Wall Street. Eine der klügsten und wichtigsten Warnungen stammt von Präsident Eisenhower. Er warnte vor der politischen Macht des militärisch-industriellen Komplexes. Der ist heute stärker denn je.

Europa hat Amerikas Exzesse nicht im selben Maße mitgemacht. Die Schere zwischen Arm und Reich ist kleiner. Dennoch hat Europa gegenüber Amerika und China nicht an Macht oder Respekt gewonnen.

Das ist mir zu grobschlächtig. Manche Betrachter von außen stellen Europa gerne als Museum dar: ein Gott sei Dank heute friedliches, relativ vernünftiges und ungefährliches Museum. Das liegt mir fern. Ich bin tief beeindruckt von den Fortschritten, die Europa seit 1945 gemacht hat. Das ist eine erstaunliche, revolutionäre Veränderung. Wird sie sich halten? Wird Europa seine wirtschaftliche Krise überwinden und seine Finanzen in Ordnung bringen? Das soziale Netz ist eine Errungenschaft, aber es hat Schwächen und muss haltbar gemacht werden. Ich denke mehr über Amerika nach, weil ich hier lebe und weil es für die Geschichte des Westens noch ein bisschen wichtiger ist, wie sich Amerika entwickelt als was in Europa vorgeht. Freilich sind beide von einander abhängig. Ich mache mir jedenfalls große Sorgen um Europa, besonders beim Blick auf die politischen Führungen.

Wen meinen Sie?

Wenn ich nachts Albträume habe, denke ich an die dreißiger Jahre. Die demokratischen Kräfte waren damals schwach und das Führungspersonal bedauernswert. Beim Blick auf Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy, Wladimir Putin denkt man auch nicht gerade an Leistung und Befähigung. Guido Westerwelle macht es den Deutschen nicht leicht und schwächt Angela Merkel. Wo sind ihre Stützen, im Land und außerhalb? Sie war in der vorigen Koalition glücklicher. Ich sehe heute keine hochrangigen Köpfe wie in der deutschen Nachkriegszeit. Eines ist freilich nicht so schlimm wie in den USA. Hier interessieren sich die Studienabgänger kaum noch für die „Res Publica“. Sie wollen in der Finanzwelt reich werden. Im 19. Jahrhundert haben große Dichter vor der unverantwortlichen Macht des Geldes gewarnt. Alexis de Toqueville hat Amerika 1832 in seinen Briefen von dort mit Sympathie beschrieben, aber schon damals die Gefahr des Materialismus erkannt. Die schlimmsten Befürchtungen von damals sind heute weit übertroffen.

Das Gespräch führte Christoph von Marschall. Foto: Torsten Silz/ddp

ZUR PERSON

FÜNF DEUTSCHLANDS

hat er erlebt. Das Nachdenken darüber wurde Berufung und Beruf. 1926 kam Fritz Stern in Breslau zur Welt, die Familie floh 1938 vor den Nazis. Er wurde Geschichtsprofessor in New York. Sein Buch „Unser Jahrhundert“ mit Helmut Schmidt und sein Buch über die fünf Deutschlands sind Bestseller.

ZWEI AMERIKAS

und der oft hasserfüllte Ton zwischen den beiden politischen Lagern lassen ihn um die Zukunft der USA fürchten.

EIN  EUROPA

ist sein Herzenswunsch. Wenn die Menschen doch nur aus der Geschichte lernen würden!

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