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Erol Özkoray (62) ist Publizist, Bürgerrechtler und ehemaliger Politikberater. Er setzte sich 2015 mit seiner Frau Nurten nach Schweden ab.

© privat

Interview mit einem türkischen Emigranten: "Es kann einen zweiten Putsch geben"

In der Türkei gibt es viele Verschwörungstheorien über den Putschversuch. Interview mit Erol Özkoray (62), einem nach Schweden geflüchteten türkischen Publizisten und Bürgerrechtler.

Herr Özkoray, halten Sie es für glaubwürdig, dass der Prediger Fethullah Gülen hinter diesem Umsturzversuch steht?

Auf gar keinen Fall. Die türkische Armee ist eine Putscharmee. Das ist ihr Existenzgrund, ihre raison d’être. Ohne den Putsch ist sie nichts. Der Putsch ist ihr Spezialgebiet. Die Armee denkt, dass ihr der Staat gehört, denn sie hat ihn aufgebaut. Es kann deshalb jetzt durchaus einen zweiten Putschversuch geben. Die Armeeführer haben gesehen, dass dieser Coup nicht erfolgreich wird, und im letzten Moment die Seite gewechselt. Sie könnten es ein weiteres Mal versuchen. Erdogan wird deshalb seine eigene Armee aufbauen, eine islamische, keine kemalistische Armee. Dafür braucht er aber Zeit.

Was wird mit der Opposition geschehen, der sozialdemokratischen CHP, der prokurdischen Partei HDP?

Die CHP hat gemeinsam mit der Regierung Position bezogen gegen den Putsch, sie kann im Moment nicht direkt angegriffen werden. Für die „Säuberungen“ in der Armee braucht Erdogan die CHP. Aber auch sie soll ausgeschaltet werden. Die Kurdenpartei, die Gezi-Jugend, die Linke, die Liberalen sind alle im Visier Erdogans. Wenn Erdogan nun umgebracht worden wäre ... Wir waren auf dem Weg in eine sehr blutige Auseinandersetzung. Die Nacht des 15. Juli war eine Entscheidung zwischen Islam-Faschismus und Militär-Faschismus in der Türkei. Hätten die Militärs Erdogan umgebracht, hätte ein Bürgerkrieg gedroht. Der Genozid in Ruanda begann auch mit dem Absturz des Präsidentenflugzeugs. Erdogans Anhänger, die sunnitischen Massen in Anatolien, könnten in einem Augenblick die Wohnviertel der Aleviten angreifen. So etwas kann innerhalb von 24 Stunden passieren.

Da gäbe es dann die Armee, um das zu verhindern.

Die Zivilisten sind stark, wie wir gesehen haben. Sie sind in der Putschnacht auf die Straße gegangen, nicht für die Demokratie, sondern für den Islam. Den Keim eines Bürgerkriegs gibt es. Alles hängt davon ab, wie die Regierung den Ausnahmezustand handhabt. Wenn er in sehr gewalttätiger Weise gegen die Säkularen, gegen die Aleviten durchgeführt wird, kann alles losgehen. Der verwundbare Punkt der Türkei ist die muslimische Glaubensrichtung der Aleviten, rund 20 Millionen Bürger. Die Aleviten hatten sich auch sehr aktiv an den Gezi-Protesten beteiligt. Die alevitische Jugend ist sehr kämpferisch. Wir werden sehen, was die Islamisten nun tun, wie sie den Ausnahmezustand organisieren. Aber die Gefahr eines Bürgerkriegs besteht.

Erol Özkoray (62) ist Publizist, Bürgerrechtler und ehemaliger Politikberater. Er setzte sich 2015 mit seiner Frau Nurten nach Schweden ab. Das Gespräch führte Markus Bernath.

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