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Gipfelchefinnen: Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Staatsministerin für Integration, Annette Widmann-Mauz

© Tobias Schwarz/AFP

Interview mit Grünen-Migrationspolitikerin: "Vielfalt in Einheit fördern"

Statt weiterer Gipfel fordert die Grüne Filiz Polat Integrationsgesetze.

Der aktuelle Integrationsgipfel setzt einen Schlusspunkt hinter das große Programm, dass er sich vorgenommen hat. Hat er das geschafft?

Wir fragen uns, in welche Richtung geht es insgesamt. Die deutsche Integrationspolitik braucht einen Paradigmenwechsel, wenn wir nicht die nächsten 15 Jahre auf der Stelle treten wollen. Gut gemeinte Aktionspläne reichen für strukturelle Probleme nicht aus, mit denen Einwanderinnen und Einwanderer  konfrontiert sind. Da brauchen wir gesetzgeberische Antworten.

Zum Beispiel?

Es geht ja diesmal zu Recht um politische Partizipation und Einbürgerung. Statt dafür aber Einbürgerungskampagnen zu fahren, damit sich mehr Menschen für den deutschen Pass entschließen, sollten wir endlich ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht haben, das die Einbürgerung tatsächlich erleichtert. Es sollte Doppelstaatsbürgerschaft anerkennen und die Optionspflicht, also die Aufforderung an junge Leute, sich mit der Volljährigkeit für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, ohne Wenn und Aber abschaffen. Auch beim Thema Gesundheit: Das erkennt die Regierung zu Recht als wichtig an, aber statt mit der Einstellung von Kulturlotsen und Sprachmittlern zu antworten,..

… braucht es die nicht?

Unbedingt. Aber wir müssen auch die Hürden beim Zugang zum Gesundheitssystem abbauen. Das Asylbewerberleistungsgesetz, das Schutzsuchenden praktisch nur akute Versorgung zugesteht, muss abgeschafft werden. Nicht nur in Zeiten einer Pandemie sollten alle in Deutschland lebenden Menschen einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem erhalten, ohne rechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Deshalb fordern wir einen anonymen Krankenschein, hier darf die Bundesregierung nicht bremsen, sondern muss das aktiv unterstützen. Und die Bundesverwaltung muss endlich die Gesellschaft der Vielen abbilden. Aber dafür brauchen wir keine Appelle, sondern ein Partizipationsgesetz auf Bundesebene, also Chancengleichheit per Gesetz.

Filiz Polat MdB Grüne
Filiz Polat MdB Grüne

© Foto: picture alliance/dpa

Glauben Sie, dass das aktuell Chancen hätte? Die Debatte um Identitätspolitik nimmt ja gerade an Heftigkeit zu. Es wird darum gestritten, ob die Gesellschaft sich so nicht in Einzelgruppen und -grüppchen zerlegt.

Die Debatte zeigt, wo diese Gesellschaft in Teilen stehen geblieben ist. Das Leitprinzip für mich ist, die Vielfalt in Einheit zu fördern. Wenn eine Gesellschaft sich rassismuskritisch weiterentwickeln will, muss sich jede und jeder reflektieren und seine Vorurteile hinterfragen. Unsere Aufgabe ist es, politische Mitbestimmung zu ermöglichen und strukturellen Rassismus offen zu legen.

In der jetzigen aufgeheizten Situation?

Ich finde die aktuelle Debatte hochspannend. Die Gesellschaft der Vielen zeichnet sich ja dadurch aus, dass es Aushandlungsprozesse gibt, in denen auch die ihre Forderungen artikulieren können, die bisher keine Stimme hatten.

Das ist natürlich kein ganz symmetrischer Prozess. Eine sehr sehr starke Gruppe derer, die nicht finden, dass sie ebenfalls Gruppeninteressen vertreten – weiß und hetero, vielleicht auch männlich -, die sich mit dem Ganzen gleichsetzt, gegen die andern, denen man dagegen Grüppchendenken vorwirft?

Ich habe die Hoffnung, dass es auch auf der privilegierten Seite irgendwann ausreichend Selbstreflexion gibt. Eine offene Debatte hilft. Wir müssen da alle an uns arbeiten, ich versuche es selbst.

Sie auch? Sie stammen aus einer türkischen Familie.

Auch wer einer diskriminierten Gruppe angehört, hat womöglich Privilegien. Das war die Erfahrung, als wir Grüne an unserem Vielfaltstatut gearbeitet haben. Auch ich muss mich in die Perspektive einer Frau mit sichtbarer Behinderung erst einmal hineinversetzen. Aber davon profitiere ich doch auch, ich lerne für das, was ich politisch mache. Auch dann, wen sie mir sagt, dass sie sich durch ein Verhalten von mir verstört oder herabgesetzt fühlt. Es ist wichtig anzuerkennen, dass die, die gewisse Privilegien haben, nicht die Grenzen für andere ziehen dürfen. Und wenn sie uns darauf aufmerksam machen, sollten wir uns nicht angegriffen fühlen. Nur im offenen Austausch können wir lernen.

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