zum Hauptinhalt
Kulturkampf in Deutschland. Salafisten demonstrieren Anfang Mai in Solingen gegen die Provokationen durch die militanten Islamgegner von Pro Deutschland.

© dapd

Interview mit Hans-Georg Maaßen: „Der Dschihad wird entgrenzt“

Vor elf Jahren rasten zwei Flugzeuge in das World Trade Center und töteten 3000 Menschen. Wie gefährlich ist der islamistische Terror heute? Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, spricht mit dem Tagesspiegel über die Gefahr durch Einzeltäter, Einsichten im Fall Kurnaz und Reformen in seiner Behörde.

Herr Maaßen, wie haben Sie den 11. September 2001 erlebt?

Es war natürlich ein Schock, diese Nachricht zu hören. Wir alle waren fassungslos, als wir die Bilder aus New York und Washington sahen. Als damaliger Referatsleiter Ausländerrecht im Bundesinnenministerium saß ich am 11. September im Bundestag und verhandelte in einer Arbeitsgruppe das Zuwanderungsgesetz. Sehr bald nach den Terroranschlägen wurde klar, dass jetzt das Thema Sicherheit auch im Zuwanderungsgesetz stärker gewichtet werden musste.

Elf Jahre nach den Anschlägen: wer ist gefährlicher für Deutschland, ein einzelner, radikalisierter Jüngling oder Al Qaida?

Beide Phänomene sind gleich gefährlich. Die so genannte Kern-Al Qaida im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet ist zwar geschwächt, aber die Filialen in Nordafrika wollen die Veränderungen in den Staaten des Arabischen Frühlings massiv beeinflussen. Außerdem propagiert Al Qaida den individuellen Dschihad, also Aktionen von Einzeltätern oder Kleinstgruppen. Der Dschihad ist dadurch entgrenzt. Das wird gerade auch für Europa und Deutschland gefährlich, wie zwei Fälle verdeutlichen: Im März 2011 hat Arid Uka zwei US-Soldaten am Frankfurter Flughafen erschossen, im März dieses Jahres tötete Mohamed Merah in Frankreich sieben Menschen, darunter drei jüdische Kinder. Beide Attentäter gehörten keiner Organisation an, wurden aber durch islamistische Propaganda aus dem Umfeld terroristischer Organisationen wie Al Qaida radikalisiert.

Sind Merah und Uka die Prototypen künftiger Anschläge?

Einzeltäter, die sich individuell radikalisiert haben, vor allem über das Internet, sind eine große Bedrohung. Auch wenn Al Qaida diese nicht steuert, propagiert die Organisation den individuellen Dschihad. Der jemenitische Zweig von Al Qaida hat 2011 in seiner Internet-Publikation „Inspire“ Arid Uka für seine Morde gelobt.

Wie groß ist das Potenzial militanter Salafisten in Deutschland?

Wir schätzen das Gesamtpotenzial von Salafisten in Deutschland auf rund 3800 Personen, mit steigender Tendenz. Außerdem ist der Übergang vom rein politischen Salafismus zum dschihadistischen, also. gewaltgeneigten Salafismus fließend. Der politische Salafismus führt nicht zwingend zur Militanz, aber fast jeder Dschihadist hat Bezüge zum Salafismus. Außerdem haben die salafistischen Krawalle vom Mai in Solingen und Bonn gezeigt, dass Personen aus dem politischen Salafismus sich so rasch radikalisieren, dass sie Gewalttaten verüben, bis hin zum Messerangriff auf Polizisten.

Im Juni hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich den salafistischen Vereins Millatu Ibrahim verboten und entsprechende Verfahren gegen die Gruppierungen Dawa FFM und „Die wahre Religion“ eingeleitet. Hat das die Szene geschwächt?

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt zumindest einen Rückgang der Propagandaaktivitäten fest. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Die salafistische Szene wurde durch die Massivität der staatlichen Exekutivmaßnahmen überrascht. Die Polizei konnte zudem zahlreiche Computer und weiteres Material beschlagnahmen, das hat die Salafisten getroffen. Nun verlagert sich die Propaganda nach Ägypten, wohin der Anführer von Millatu Ibrahim, Mohamed Mahmoud, schon im April ausgereist war.

Nach den Krawallen in Solingen und Bonn rief der Dschihadist Yassin Chouka von der pakistanischen Terrorhochburg Wasiristan aus zum Mord an Journalisten und Mitgliedern der islamfeindlichen Partei Pro NRW auf. Wie haben die Salafisten in Deutschland reagiert?

Bislang haben wir darauf keine Reaktionen registriert. In Teilen der Szene werden die Chouka-Brüder nicht ernst genommen. Sie sind nicht so stark verankert wie Mahmoud und der Berliner Salafist Denis Cuspert, der früher als Rapper Deso Dogg auftrat und sich später als Sänger islamistischer Kampflieder hervortat.

Ägypten als neue Terrorismus-Drehscheibe

Hans-Georg Maaßen.
Hans-Georg Maaßen.

© picture alliance / dpa

Im August blieb es bei den provokativen Auftritten von Anhängern der islamfeindlichen Pro-Bewegung in Berlin ruhig, obwohl die umstrittenen Mohammed-Karikaturen gezeigt wurden. Hat die salafistische Szene ihre Taktik geändert?

Erstaunlich war, dass es für diese Veranstaltungen keine Mobilisierung über soziale Netzwerke gab und Aufrufe von salafistischen Protagonisten fehlten. Zudem waren in Berlin die Rädelsführer der Krawalle von Solingen und Bonn nicht anwesend. Schließlich war die Berliner Polizei gewarnt und massiv präsent.

Außer dem Österreicher Mahmoud haben sich weitere Salafisten nach Ägypten abgesetzt. Was treiben die da?

Ägypten wird mehr und mehr zum Reiseziel für Dschihadisten, das bereitet uns besondere Sorge. Die Zahl der Ausreisen aus Deutschland hat stark zugenommen. Allein von Januar bis Ende August 2012 haben wir die Ausreise von 23 Personen aus Deutschland nach Ägypten registriert. Das ist jetzt schon eine Verdopplung der Zahl aus dem gesamten Jahr 2011. Und schätzungsweise 30 weitere, die nach Ägypten wollen, sitzen auf gepackten Koffern. Hinzu kommt, dass Islamisten früher aus anderen Gründen nach Ägypten reisten. Bislang ging es vorwiegend darum, die arabische Sprache zu lernen.

Und nun wird das Land am Nil zur neuen Drehscheibe des islamistischen Terrors?

Wir befürchten, dass Ägypten aufgrund der starken islamistischen Kräfte dort zur Drehscheibe für Salafismus und Terrorismus werden könnte. Mahmoud konnte eine Art Brückenkopf aufbauen und dabei örtliche Strukturen nutzen. Ägypten spielt zudem eine Rolle als Transitland in Richtung Somalia, Maghreb oder Mali.

Denis Cuspert ist ebenfalls nach Ägypten gereist und hat in einem Video, das kürzlich das ZDF in Teilen ausstrahlte, Anschläge in Deutschland angekündigt . . .

Von dem Ex-Rapper selbst dürfte zwar nur begrenzte Gefahr ausgehen, aber eine viel größere steckt in seiner Botschaft. Cuspert hat Deutschland zum Kriegsgebiet erklärt. Das kann dazu führen, dass sich junge Männer, die sich auf dem Weg der Radikalisierung befinden, animiert fühlen könnten zu Selbstmordanschlägen oder zu Attentaten nach dem Muster von Arid Uka. Das Video wurde allerdings bislang nicht über die einschlägigen Kanäle im Internet veröffentlicht.

Wie viele Islamisten sind in diesem Jahr nach Wasiristan und in andere Dschihad-Regionen gereist?

Generell hat die Zahl der Reisen an die bisher bekannten Dschihad-Schauplätze erheblich abgenommen und bewegt sich jeweils im niedrigen einstelligen Bereich. So gilt die die Region Wasiristan als zu entbehrungs- und risikoreich. Auch wenn die Zahl der Reisen nach Somalia geringfügig angestiegen ist, ist hier kein neuer Ausreisetrend zu erkennen. Über Ausreisen in Richtung Mali, wo Islamisten den Norden besetzt halten, haben wir bislang keine Erkenntnisse. Auch der Irak spielt als Reiseziel keine Rolle. Und Personen, die aus Deutschland nach Syrien gereist sind, wollen zwar das Assad-Regime bekämpfen, gehören aber nicht zum Spektrum der Dschihadisten.

Welche Formation von Al Qaida ist für Deutschland besonders gefährlich? Der Kern in Wasiristan oder einer der Ableger und Verbündeten im Nahen Osten und in Afrika?

Die so genannte Kern-Al Qaida in Wasiristan ist zwar durch den Tod Osama bin Ladens und die vielen Drohnenangriffe geschwächt - aber der Fall der Düsseldorfer Zelle, die schwere Anschläge plante, belegt, dass Kern-Al Qaida weiterhin operativ im Ausland tätig ist. Besonders gefährlich ist auch Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH), die an Bedeutung gewonnen hat. Von hier wird nicht nur der individuelle Dschihad propagiert. AQAH hat bereits 2010 vom Jemen aus Paketbomben als Frachtgut in Flugzeugen verschickt. Eine Bombe wurde unerkannt im Flughafen Köln-Bonn in Richtung Großbritannien umgeladen. Al Qaida im Maghreb (AQM) hat durch den Arabischen Frühling an Einfluss gewonnen. Mittelfristig kann AQM eine Bedrohung für die Staaten der Region werden und gefährdet schon jetzt deutsche Interessen in Nordafrika.

Bedroht wurde Deutschland auch durch andere Terrorgruppen in Wasiristan.

Die Islamische Bewegung Usbekistans spielt wegen der Propaganda der aus Bonn stammenden Chouka-Brüder eine Rolle. Im Vergleich dazu hat die ebenfalls usbekische Islamische Dschihad Union, von der die Sauerlandgruppe mit Anschlägen in Deutschland beauftragt wurde, an Bedeutung eingebüßt. Hinweise auf Taliban-Strukturen in Deutschland haben wir nicht, deutsche Institutionen in Afghanistan bleiben weiterhin gefährdet. Generell ist zu sagen, dass die Gefahr, dass in Deutschland ein Angriff vom Ausmaß des 11. September stattfindet, gering erscheint. Auch weil die Sicherheitsbehörden national wie international besser aufgestellt sind als vor über elf Jahren.

Notwendige Reformen im System

Ist das Bundesamt für Verfassungsschutz gut genug aufgestellt, um den vielfältigen Gefahren des islamistischen Terrors zu begegnen?

Die Bekämpfung des islamistischen Terrors ist und bleibt eine der Prioritäten für das BfV, was sich auch im Personaleinsatz widerspiegelt. Ergänzend hat das BfV im Bereich der Deradikalisierung - in einer Art Vorreiterrolle - über das Aussteigerprogramm „HATIF“ radikalisierten Islamisten ein Angebot zur Abkehr von der Szene unterbreitet. HATIF ist eine Option, die in Einzelfällen in Anspruch genommen wurde. Es war klar, dass die Mentalität bei Islamisten, die sich mit Leib und Leben der Ideologie des Dschihad verschrieben haben, eine andere ist als beispielsweise bei ausstiegswilligen Rechtsextremisten. Nun bietet auch das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betriebene Beratungstelefon in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern Hilfe und Unterstützung für Angehörige und Freunde radikalisierter Islamisten an.

Hat die Affäre um geschredderte Akten mit möglichem Bezug zur rechtsextremen Terrorgruppe NSU die Arbeitsfähigkeit des BfV beeinträchtigt?

Nein. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren sicherlich durch die Aktenvernichtung erschrocken und verunsichert. Aber das BfV arbeitet die Umstände der Vernichtung gründlich und sehr sorgfältig auf. Der vom Bundesinnenminister zur Klärung des Falles eingesetzte Sonderbeauftragte wird vermutlich noch im September einen umfassenden Bericht vorlegen.

Welche Reformen sind im BfV notwendig?

Ich sehe drei wesentliche Punkte, die wir ändern müssen. Zum Einen: Wir brauchen klare Vorgaben für das Führen von Akten. Da ist allerdings der Gesetzgeber gefragt. Bislang ist gesetzlich nur geregelt, wann Dateien, also elektronische Akten, zu löschen sind. Hingegen fehlen präzise gesetzliche Regelungen zum Vernichten von Papierakten. Außerdem muss das Amt in zwei weiteren Punkten inhaltlich stärkere Akzente setzen: Die Beobachtung von gewaltgeneigten Extremisten ist dringlicher als die von legalistischen Gruppierungen, wie beispielsweise der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Um militante Extremisten stärker in den Fokus zu nehmen, ist eine Umschichtung von Personal notwendig. Außerdem müssen wir uns intensiver mit allen Cyberaspekten, also den Aktivitäten im Internet von Extremisten, Terroristen und Spionen auseinandersetzen. Wenn das BfV für unser Land hier zukünftig international mithalten will, ist eine Aufstockung der Kapazitäten unumgänglich. Nötig ist außerdem, dass der Verbund der 17 Verfassungsschutzbehörden klare Vorgaben für den Einsatz und die Führung von V-Leuten bekommt.

Noch ein Wort zum Fall Murat Kurnaz. Sie haben 2002 in einem Rechtsgutachten verneint, dass der in Guantanamo einsitzende Türke aus Bremen in die Bundesrepublik zurückkehren kann. Dafür gab es viel Kritik, die auch jetzt wieder hochkam, als Sie den Posten des BfV-Präsidenten übernahmen. Empfanden Sie kein Mitleid für einen jungen Mann, der unschuldig in einem amerikanischen Gefangenencamp einsaß?

Die langjährige Inhaftierung von Kurnaz in Guantanamo war nach deutschen und europäischen Maßstäben menschenrechtswidrig. Insofern hat mich sein Schicksal nicht unberührt gelassen. Unabhängig davon war meine Darstellung der damaligen Rechtslage zutreffend - so hat es ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages bewertet. Das entsprechende Gesetz hat der Gesetzgeber bis heute nicht geändert. Nach der Entscheidung des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière, Obamas Plan zur Auflösung des Gefangenenlagers zu unterstützen, habe ich dafür im Jahr 2010 Mitarbeiter nach Guantanamo geschickt. Deutschland hat dann zwei Insassen aufgenommen. Mir tut jeder leid, der ohne Urteil in Guantanamo einsitzt.

Hans-Georg Maaßen (49) ist seit August neuer Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Zuvor war der Terrorexperte Unterabteilungsleiter im Bundesinnenministerium. Mit ihm sprach Frank Jansen.

Zur Startseite