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Bundestagspräsident Norbert Lammert

© dapd

Interview mit Norbert lammert: „So eine Staatengemeinschaft gab es bisher nirgendwo“

Bundestagspräsident Norbert Lammert über die Europäische Union, Volksbefragungen, das Betreuungsgeld und die Urlaubsplanung der Abgeordneten.

Von
  • Antje Sirleschtov
  • Robert Birnbaum

Haben Sie den Abgeordneten des Bundestages schon geraten, ihren Sommerurlaub lieber heimatnah zu planen?

Ein Parlamentarier sollte auch im Urlaub immer das Handgepäck bereit haben. Alle wissen, wie die Lage ist. Wenn in der Sitzungspause Entscheidungsbedarf entsteht, muss der Bundestag ihm nachkommen. Ich habe in vielen Jahren den Familienurlaub für eine Sondersitzung unterbrochen. Also, die Übung ist den Kollegen und mir vertraut.

Spanien könnte ein Kandidat für eine Sondersitzung sein. Diskutiert wird auch, ob die Reformauflagen für Griechenland gelockert werden müssten. Gebietet es nicht eigentlich die Mitverantwortung in Europa, den Griechen auf die Sprünge zu helfen?

Die gesamte Konstruktion der Hilfen macht logisch nur Sinn, wenn es dieses Gefühl der Mitverantwortung gibt. Wenn die Zusagen ernst gemeint sind, muss man natürlich darüber nachdenken, ob bei Betrachtung der Gegebenheiten alle getroffenen Vereinbarungen realistisch sind. Dabei muss man aber unterscheiden zwischen Vereinbarungen, die die Griechen in der Größenordnung oder im Zeitplan eventuell objektiv nicht umsetzen können – und solchen, die sie aus vielleicht sogar verständlichen Gründen nicht umsetzen wollen.

Müsste der Bundestag einer solchen Anpassung zustimmen?

Die Rechtslage ist, dass nicht nur Hilfspakete inklusive ihrer Bedingungen einer Zustimmung des Bundestags bedürfen, sondern auch „wesentliche Änderungen“. Man müsste also prüfen, ob beispielsweise ein zeitlicher Aufschub konkret eine wesentliche Änderung darstellt. Im Zweifel entscheidet darüber der Bundestag selbst, nicht die Regierung.

Das Verfassungsgericht hat die Rechte des Parlaments gegen die Regierung gerade wieder gestärkt. Was bedeutet das Urteil?

Ich finde diese Entscheidung nicht überraschend, sondern wäre im Gegenteil über jede andere verwundert gewesen. Trotzdem ist das Urteil nicht banal. Mit ihm ist zum ersten Mal höchstrichterlich festgestellt, dass in EU-Angelegenheiten auch außerhalb des originären EU-Rechts – also etwa für völkerrechtliche Verträge einer kleineren Gruppe von EU-Staaten – die Bestimmungen zur Parlamentsbeteiligung gelten, die wir im Artikel 23 und im Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) verankert haben. Soweit es daran Zweifel gab, hat sie das Verfassungsgericht mit bemerkenswerter Deutlichkeit ausgeräumt.

Hat das denn jetzt praktische Folgen?

Ich sehe keine unmittelbare Auswirkung auf anstehende Beratungen im Hinblick auf den Fiskalpakt und den Euro-Rettungsschirm ESM. Ich empfehle aber, das Urteil sorgfältig unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob neben dem Fiskalpakt nicht auch der ESM eine solche indirekte Verfassungsrelevanz besitzt, dass er mindestens zweckmäßigerweise ebenfalls mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden sollte.

Genügt denn die Behandlung des ESM im Parlament den Anforderungen? Kritiker reden von „Durchpeitschen“, Karlsruhe bremst den Bundespräsidenten ...

Die zweite und dritte Lesung ist von den Fraktionen ungewöhnlicherweise erst für den späten Freitagnachmittag vereinbart worden, um neben den vorliegenden Vertragstexten auch mögliche Vereinbarungen des Europäischen Rates am Freitag noch für die abschließende Urteilsbildung berücksichtigen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hindert weder den Bundestag noch den Bundespräsidenten an der Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Es nimmt allerdings bei Anrufung die eigene Zuständigkeit zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen wahr. Kritikbedürftig wäre, wenn es anders wäre.

Das Gericht hat dem Bundestag zugestanden, dass die Regierung ihn besser über Verhandlungsstände in Europa informieren muss. Was nützt ihm dieses Recht?

Der Bundestag muss begreifen, dass er nicht verhandeln kann, und die Regierung muss begreifen, dass sie nicht entscheiden darf. Das ist für beide Seiten offenkundig eine etwas schmerzliche Einsicht. Auch dieses Urteil verlagert das Verhandlungsmandat nicht auf das Parlament. Aber es ist noch deutlicher als vorher, dass die Regierung das Parlament nicht einfach mit einem fertigen Verhandlungsergebnis konfrontieren darf, das die Abgeordneten dann nur noch im Ganzen annehmen oder ablehnen dürfen.

Wie lange können nationale Parlamente in einem sich vereinigenden Europa die europäische Volksvertretung ersetzen?

Ich bin kein Historiker und will deren künftigem Urteil nicht vorgreifen. Aber so richtig der Hinweis ist, dass sich demokratische Willensbildung im vereinten Europa noch immer nicht nach dem Idealbild der demokratischen Willensbildung innerhalb der Nationalstaaten vollzieht, so richtig ist doch auch, dass es keine andere Staatengemeinschaft in der Welt gibt, die es an demokratischer Legitimation auch nur entfernt mit Europa aufnehmen kann. Die Europäische Union ist kein Staat, sie ist eine Gemeinschaft von Staaten. Dieses Modell gab es bisher nirgendwo. Wir bauen sozusagen den Prototyp.

Wird der Bundeshaushalt bald in Brüssel geschrieben?

Stehen wir nicht kurz davor, dass aus der Gemeinschaft zwangsläufig die Vereinigten Staaten von Europa werden?

Das ist die zentrale Frage und zugleich die schwierigste. Ich bin davon überzeugt, dass der Kern der Probleme, die wir jetzt haben, im Ungleichgewicht zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Integration liegt. Wir haben von den Römischen Verträgen an die ökonomische Integration mit wesentlich größerem Ehrgeiz betrieben, als wir ihn uns für eine politische Union zugemutet haben. Das ging schließlich so weit, dass ein größerer Teil der Staaten sich entschlossen hat, ihre nationale Währung zugunsten einer Gemeinschaftswährung aufzugeben, ohne aber zugleich eine gemeinsame Fiskalpolitik einzuführen. Durch eine Verkettung glücklicher Umstände hat das in den ersten Jahren nicht zu Turbulenzen geführt. Daraus haben wir voreilig den Schluss gezogen, es handele sich um einen stabilen Zustand. Jetzt nehmen wir schmerzlich zur Kenntnis, dass dies ein Irrtum ist.

Und was folgt aus dem Irrtum?

Logisch bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder führen wir die ökonomische Integration auf das Maß zurück, das wir uns politisch zumuten wollen. Oder wir halten die ökonomische Integration für nicht aufgebbar – dann müssen wir die politische auf das gleiche Niveau heben. Dann wird allerdings die Frage neu diskutiert werden müssen, ob es eine wirklichkeitsnahe Idee ist, dass die Europäische Gemeinschaft kein Staat sei.

Wie wirklichkeitsnah ist die Idee eines europäischen Finanzministers, wenn das nationale Budgetrecht beim Bundestag liegt?

Jedenfalls kann ich da keine prinzipielle Unverträglichkeit erkennen. Es entspricht ja eigentlich schon der Logik einer Gemeinschaftswährung, erst recht der Logik des Fiskalpakts, dass man sich in der EU gegenseitig Haushaltsdisziplin zumuten und Transparenz zubilligen muss. Es muss auch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen geben. Deshalb ist es nur logisch, dass ein Währungskommissar – den Begriff Finanzminister finde ich nicht glücklich gewählt – die nationalen Haushalte darauf überprüft, ob sie mit den gemeinsamen Regeln vereinbar sind. Nicht mehr und nicht weniger. Dem Europäischen Gerichtshof bliebe dann die Aufgabe der Berufungsinstanz.

Führt das alles nicht zwangsläufig dazu, dass der Bundeshaushalt irgendwann in Brüssel geschrieben wird?

Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat ja auch keinen Zweifel gelassen: Die Zuständigkeit des Bundestages für Einnahmen und Ausgaben unseres Haushaltes ist an die Europäische Gemeinschaft nicht übertragbar. Das verhindert das Grundgesetz.

Wie viel europäische Integration lässt das Grundgesetz dann überhaupt zu?

Offenkundig jede Menge. Das Ausmaß der europäischen Integration, das es seit 1958 gegeben hat, hätten sich die Gründungsväter der Republik vermutlich nicht vorstellen können.

Horst Seehofer fordert, jeder weitere Schritt zur europäischen Integration müsse durch Volksabstimmungen legitimiert werden. Stimmen Sie ihm zu?

Ich will nicht ausschließen, dass auf dem Weg zur politischen Union ein Punkt erreicht wird, an dem es politisch angezeigt ist, das Volk zu befragen. Der Augenblick wäre dann erreicht, wenn die Integration uns zwingen würde, an die Gemeinschaft solche nationalen Rechte abzutreten, die das Grundgesetz nur dem Bundestag zubilligt. Über diese Frage sollte allerdings mit großer Sorgfalt gesprochen werden. Denn sie berührt auch das Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie. Ich bin sicher, dass wir früher als gedacht über solche grundsätzlichen Punkte diskutieren müssen. Ich warne allerdings vor Zurufen, die Einzelfragen herausgreifen und damit die Gesamtdiskussion über eine geeignete Lösung erschweren, wenn nicht gar zunichte machen.

Apropos Zurufe: Der CSU-Vorsitzende droht indirekt mit dem Ende der Koalition, wenn das Betreuungsgeld nicht wortwörtlich so beschlossen wird wie im Gesetzentwurf formuliert. Fühlen Sie sich als Parlamentarier erpresst?

Das Parlament hat immer das Recht, Gesetzentwürfe zu verändern, wenn es das für notwendig hält. Und mein Eindruck aus der letzten Fraktionssitzung von CDU und CSU ist, dass eine Mehrheit der Fraktionsmitglieder Änderungen des eingebrachten Betreuungsgeld-Gesetzentwurfes nicht nur für möglich hält, sondern sie geradezu erwartet.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Robert Birnbaum.

DER RUHRPOTTLER

Norbert Lammert wurde 1948 in Bochum geboren, studierte an der Ruhr-Universität und startete seine Politikerkarriere in der Kommunalpolitik.

DER POLITIKER

Sein politisches Interesse sei früh entstanden, teilt Lammert auf seiner Homepage mit. Als Berufsentscheidung habe es sich aber erst durchgesetzt, als er einsehen musste, dass seine Begeisterung für Musik und Fußball als Grundlage für einen Beruf vermutlich nicht ausreichen würde.

DER FAMILIENMENSCH

Der Katholik Norbert Lammert heiratete 1971 seine Frau Gertrud, mit der er vier Kinder hat; sie leben in Berlin und Bochum. Seine Familie sei ihm wichtig, sagt er: „Auch deshalb, weil zumindest sie bestimmte Politiker sympathisch findet.“

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