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Norbert Lammert.

© Mike Wolff

Interview: Norbert Lammert: "Regierungen sind nie stärker als das Volk"

"Ich empfehle dem Parlament mehr Selbstbewusstsein" Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über den Kontrollauftrag von Abgeordneten und die Bürgerproteste gegen Stuttgart 21.

Herr Lammert, hat sich Ihr Verhältnis zur Bundeskanzlerin verschlechtert?

Warum sollte das der Fall sein?

Sie haben im vergangenen Jahr mehrfach Vorhaben der schwarz-gelben Koalition infrage gestellt – bei der Mehrwertsteuer-Erleichterung für Hotels, beim Griechenland-Rettungspaket, im Streit um die Rechte des Bundesrats bei der Akw-Laufzeitverlängerung. Nimmt Ihnen die Kanzlerin das nicht übel?

Die authentische Antwort müssten Sie bei Angela Merkel selbst erfragen. Ich habe nicht den Eindruck, dass unser ausgesprochen gutes und kollegiales Verhältnis ernsthaft eingetrübt ist. Jeder liest öffentliche Belobigungen lieber als kritische Einwände. Ich habe mich bemüht, meine Rechte und Verpflichtungen als Parlamentarier wahrzunehmen. Ich habe in jedem Einzelfall entschieden, ob meine kritischen Einwände für ein abweichendes Votum reichten, oder ob ich eine von der Mehrheit der Fraktion getragene Position am Ende auch mittragen kann.

Sie nannten die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels „steuersystematisch willkürlich“.

Ich habe sogar einem Änderungsantrag der Grünen zugestimmt, der keine Mehrheit gefunden hat. Meine Bedenken gegen die Hotelsteuer waren aber kein hinreichender Grund, das gesamte Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Bausch und Bogen abzulehnen. Es enthält eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen, von denen wir heute auch sehen, dass sie sehr gut wirken. Gerade deshalb war mir völlig unverständlich, warum man dieses gute Gesetz durch diese ebenso unnötige wie wirkungslose Maßnahme in der öffentlichen Wirkung beschädigen musste.

Sie sagten, Sie seien nur Ihrer Pflicht als Abgeordneter nachgekommen. Worin besteht die?

Der Bundestag ist nicht der verlängerte Arm der Bundesregierung. Er ist nach dem Grundgesetz nicht nur Gesetzgeber, sondern auch das Kontrollorgan der Regierung. Folglich ist die Wahrnehmung dieser verfassungsrechtlichen Funktionen die vornehmste Aufgabe der Parlamentarier.

Inzwischen scheint die Koalition bereit, den Beschluss zur Hotelsteuer zu korrigieren und die Mehrwertsteuer systematisch neu zu ordnen. Sehen Sie sich bestätigt?

Die Bereitschaft gibt es. Allerdings ist die Umsetzung dieser Bereitschaft in ein sowohl inhaltlich überzeugendes als auch mehrheitsfähiges Konzept außerordentlich schwierig.

Wenn Sie ein Jahr zurückschauen: Hat das Ende der großen Koalition das Parlament gestärkt?

Ich habe schon in der vergangenen Legislaturperiode die Vermutung zurückgewiesen, dass bestimmte Mehrheitsverhältnisse zwangsläufig zu einer Beschränkung parlamentarischer Wirkungsmöglichkeiten führten. Die große Koalition hat nicht zu einer Aushebelung von parlamentarischen Entscheidungs- und Kontrollmechanismen geführt. Die kleine Koalition mit einer zahlenmäßig stärkeren Opposition führt umgekehrt auch nicht zu einer spontanen Revitalisierung des Parlaments. Bei aller Kritik: Es gibt auf der Welt keine Handvoll Parlamente, die einen ähnlich großen oder gar größeren Einfluss auf politische Sach- und Personalentscheidungen hätten als der Deutsche Bundestag.

Sind die Debatten im Parlament lebendiger geworden, seitdem mit der SPD wieder eine Volkspartei die Opposition anführt?

Das stimmt nur dann, wenn man den Schlagabtausch als klassischen Bestandteil von Plenardebatten als alleinigen Maßstab nimmt. Aber die Heftigkeit von Plenardebatten ist kein ausreichender Maßstab für die Leistungsfähigkeit eines Parlaments.

Wann hat denn der Bundestag zum letzten Mal einen in Ihrem Sinn spürbaren Beweis seiner Leistungsfähigkeit erbracht?

Woche für Woche. Parlamenten geht es so ähnlich wie Zeitungen: nicht jedes Thema ist aufregend, nicht jeder Beitrag brillant. Aber die tägliche Arbeit der Parlamente wie der Medien ist für eine lebendige Demokratie unverzichtbar.

Gab es im letzten Jahr Momente, die besser nicht passiert wären?

Noch immer geben Abgeordnete gelegentlich ihrer Neigung nach, im Parlament Indianer zu spielen. Das sollten sie besser unterlassen.

Sie spielen darauf an, dass Abgeordnete der Linken im Plenum Schilder mit Namen der Opfer des Luftangriffs bei Kundus hochhielten und in T-Shirts mit Protestslogans gegen „Stuttgart 21“ erschienen?

Alle Fraktionen sind sich einig, dass Demonstrationen im Plenum eine Störung der parlamentarischen Ordnung sind und nach der Geschäftsordnung unvermeidlich Sanktionen nach sich ziehen. Da es diesen Konsens gibt, wäre es unter jedem Gesichtspunkt wünschenswert, wenn sich auch alle danach richteten.

Grüne, SPD und Linke haben in dieser Woche darüber geklagt, dass dem Parlament zur Beratung über das umfangreiche und in der Öffentlichkeit heftig umstrittene Atomgesetz zu wenig Zeit eingeräumt wurde. Den Koalitionsfraktionen wurde „Arroganz der Macht“ beim Durchpeitschen von Gesetzen vorgeworfen. Sind solche Vorgänge Ursache für den Beschluss von Gesetzen, die später in der Bevölkerung keine Anerkennung finden oder von Gerichten gekippt werden?

Ich habe in dieser Woche nicht zum ersten Mal eine ernsthaftere, gründlichere Befassung des Bundestages mit wichtigen Gesetzesvorhaben angemahnt. Koalition wie Opposition haben durchaus Anlass zu einer selbstkritischen Betrachtung ihrer jeweiligen Beiträge. Dazu gehört das gemeinsame Nachdenken, ob der angemeldete Beratungsbedarf von allen Fraktionen des Hauses und die von uns vereinbarte Beratungszeit in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Ich empfehle uns mehr parlamentarisches Selbstbewusstsein auch gegenüber so manchen Regelungsabsichten und Zeitplänen der Regierung.

In Stuttgart demonstrieren seit Wochen Tausende gegen ein Bauvorhaben, das durch mehrere Parlamente legitimiert wurde. Werden demokratische Verfahren durch den Druck der Straße ausgehebelt?

Jedenfalls muss man zwei mögliche Übertreibungen sorgfältig vermeiden. Zum einen neigen demokratisch legitimierte Gremien zu der Versuchung, die Kommunikation mit den Bürgern unter Hinweis auf ihre Zuständigkeit und möglicherweise auch auf die Überprüfung der getroffenen Entscheidung durch ordentliche Gerichte zu versäumen oder gar zu verweigern. Umgekehrt gibt es auf der anderen Seite die Versuchung, den Rechtsstaat dadurch an seine eigenen Grenzen oder darüber hinaus zu führen, dass man für die eigenen Interessen eine höhere Autorität reklamiert als die durch parlamentarische und gerichtliche Verfahren legal zustande gekommenen Entscheidungen.

Was ist Ihre Lehre aus dem Konflikt in Stuttgart?

Regierungen und Behörden müssen der Versuchung widerstehen, den Nachweis führen zu wollen, sie seien stärker als das Volk. Das sind sie am Ende nie. Umgekehrt sollten Demonstranten, die ihr Grundrecht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wahrnehmen, Kraftproben mit dem Rechtsstaat vermeiden, der die verlässliche Inanspruchnahme dieser Grundrechte garantiert.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hat sich bewegt und preist die Demonstrationen als lebendige Demokratie. Sehen Sie auch Lernfortschritte aufseiten der Demonstranten?

Ich sehe in dem Umstand, dass es zu einem geordneten Dialog von beiden Seiten kommt, die Mindestvoraussetzung für einen wechselseitigen Lernprozess. Dabei ist es keinesfalls unerheblich, dass bei aller Begeisterung für plebiszitäre Entscheidungsverfahren, die ich pauschal nicht teile, allein die Zusammensetzung der Schlichtungsrunde um Heiner Geißler (CDU) die Unvermeidlichkeit von Repräsentativstrukturen dokumentiert. Auch die Demonstranten können nur durch von ihnen bestellte Repräsentanten in einen organisierten Dialog eintreten.

Auf Ihre Initiative hin wird die Stasi-Unterlagenbehörde ein Gutachten über den Einfluss der Stasi auf Bundestagsmitglieder verfassen. Warum halten Sie das für so wichtig?

Gerade der Bundestag sollte nicht den Eindruck entstehen lassen, das Parlament halte eine Überprüfung von möglichen Verbindungen aktiver und ehemaliger Abgeordneter zur Stasi für unzumutbar, die es als Gesetzgeber für andere öffentliche Funktionsträger für unverzichtbar erklärt hat.

Gerade macht die Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes Schlagzeilen. Wissen wir genug darüber, inwieweit Abgeordnete des Bundestages nach 1945 belastet waren durch eine NS-Vergangenheit?

Die Biografie von Abgeordneten, die sich alle vier Jahre zur Wahl stellen müssen, ist in einem viel stärkeren Maße Gegenstand öffentlicher Beobachtung und medialer Aufmerksamkeit, als das bei den Mitarbeitern eines Ministeriums der Fall ist, die seltener öffentlich auftreten. Deshalb lassen sich die beiden Vorgänge – wenn überhaupt – nur begrenzt miteinander vergleichen.

Das Gespräch führte Hans Monath. Das Foto machte Mike Wolff.

Zur Person

DER BOCHUMER

Norbert Lammert, 1948 in Bochum geboren, die Eltern hatten eine Bäckerei, ist seiner Geburtsstadt bis heute verbunden geblieben. Er studierte dort Politik- und Sozialwissenschaft, machte seinen Doktor, saß im Stadtrat und ist heute Honorarprofessor an der Ruhr-Universität.

DER CDU-POLITIKER

Lammerts Wahlkreis? Bochum I. Gewählt ist er allerdings über die Landesliste der CDU. Der Partei trat er schon mit 18 Jahren bei. Im Bundestag sitzt er seit 30 Jahren, davor war er kurze Zeit freiberuflicher Dozent. Lammert amtierte nacheinander als Parlamentarischer Staatssekretär in den Ressorts Bildung, Wirtschaft und Verkehr. Zehn Jahre war er Vorsitzender der mächtigen CDU-Landesgruppe NRW.

DER PRÄSIDENT

Seit 2005 ist Lammert Bundestagspräsident, ein betont präsidialer noch dazu. Er gilt als Liebhaber der geschliffenen Rede, zeigt gern einen feinen Humor und pflegt einen distinguierten Politikstil. Ist Vizevorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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